„In den neuen Bundesländern mögen die Leute am liebsten liebliche Weine”, sagte Albrecht Sauer, Winzer im fränkischen Escherndorf, bei meinem letzten Besuch. Seiner Ansicht nach hat sich an dieser vinophilen Eigenart wenig geändert in den letzten 20 Jahren. Auch Superillu-Chefredakteur und Ossi-Versteher Jochen Wolff glaubt zu wissen: „Die Ostdeutschen mögen keine trockenen Weine.” So jedenfalls hat er sich im Magazin der Süddeutschen Zeitung verbreitet.
Wirklich? Weinhändlerin Bärbel Bartels, Inhaberin des Weinkontor Reblaus in Magdeburg, ist skeptisch. Der Geschmack ändere sich alle paar Jahre. Außerdem lernten die Leute im Urlaub ständig neue Sorten und Stile kennen, die dann auch zu Hause nachgefragt werden, da stelle sich die Trocken-Frage nicht vordergründig. Für Bartels ist dieses „Ost-trinkt-süß” ein Vorurteil, das sich längst überholt hat.
Unmittelbar nach der Wende tendierten die Kunden sogar fast einheitlich zu trockenen Weinen: „Wenn damals einer nach halbtrocken fragte, wusste man: Eigentlich will der was Liebliches, traut sich das aber nicht zu sagen.“ Inzwischen verlangen Kunden auch gezielt nach Weinen im halbtrockenen Bereich. „Gerade Riesling mit einem Tick Restsüße finden die Leute super interessant. Aber pappsüß, das will keiner.“ Auffallend sei, dass Akademiker sich offener zu ihrem Geschmack bekennen als andere Weinliebhaber.
„Mädchentraube & Co. sind kein Thema bei uns“, sagt Mike Pfeffer. Der Manager für Wein und Spirituosen beim Getränkegroßhändler Heiloo kennt die Weinvorlieben in der Region zwischen Leipzig, Chemnitz und Dresden bestens. „Lieblicher Wein war ein umfangreiches Pflichtprogramm auf der Weinkarte — früher. Heute winken die Gastronomen nur noch ab. Besonders deutlich ist der Wandel beim Rotwein. Lieblich ist tot!“
Als die Grenzen sich öffneten, karrten manche Winzer derart zuckersüße Plörre in den Osten, dass man sich nicht wundern brauchte über das ruinierte Image. Nur in abgelegenen ländlichen Ecken mit klassischer, bürgerlicher Gastronomie wollen die Gäste nicht verzichten auf halbtrockene und liebliche Tropfen. In der Stadt dagegen habe man mehr junges Publikum, die würden sowieso trocken ordern.
Während im Weineinstiegsalter noch kurze Zeit weiß und süffig beliebt sei, schwenken die Kunden bald um auf trockene Weine. Die Geschmacksrichtung stehe allerdings als Entscheidungskriterium nicht an oberster Stelle. „Die Konsumenten orientieren sich in erster Linie am Etikett, an der Ausstattung und an der Herkunft. Der Preis muss natürlich auch stimmen”, berichtet Pfeiffer.
Halbtrockene und liebliche Weine verbinden viele Weinkonsumenten vor allem mit den Angeboten des Lebensmittelhandels, glaubt Claudia Heidler. Seit rund 15 Jahren berät die Chefin der Weinagentur Greifenberg Fachhandelskunden in Berlin und Brandenburg. „Nach der Wende ging man nur als Weinkenner durch, wenn man trocken trank. Das hat sich geändert. Man traut sich jetzt zu sagen: Ich trinke gern halbtrocken.“ Wobei sie betont, dass statt halbtrocken lieber feinherb auf dem Etikett stehen sollte, das klingt „eleganter und vermittelt eine gehobene Qualität”. Pauschal gesehen, stimmt die Weinfachfrau mit ihren Kollegen überein, dass Fachhandelskäufer verstärkt trockene Weine kaufen.
Bartels hat noch ein weitere Erkenntnis über Ostdeutsche parat: „Zwanzig- bis Dreißigjährige kaufen weiß und lieblich. Mit Mitte Dreißig wechseln diese in Richtung trocken und greifen oft zu Roséwein. Ab 65 nimmt der Anteil der Käufer von lieblichen Weinen wieder stark zu”, fasst die Weinhändlerin zusammen. Eine Einschätzung, die bundesweit gelten dürfte: Nach der 2007 vom Landwirtschaftsministerium von Rheinland-Pfalz vorgelegten Weißweinstudie trinken die bis 29jährigen Deutschen vorwiegend süß, die 30- bis 65jährigen vorwiegend trocken, und über 65jährigen wieder gern lieblich – in Ost wie in West.
Das heißt: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich die Geschmäcker in Ost und in West angeglichen: Die meisten Weintrinker wollen einfach nur unkompliziert genießen. Trocken soll der Wein sein, aber nicht herb. Und wenn er eine kleine Restsüße aufweist, ist es auch nicht schlecht. Viele Winzer – nicht nur in Sachsen – haben das erkannt und schöpfen das Restzuckerpotenzial entsprechend aus.
Die Vorliebe für eine kleine Restsüße scheint übrigens nicht nur ein deutsches Phänomen zu sein. Blindverkostungen in Großbritannien haben jetzt ergeben, dass drei Viertel der befragten Weinkonsumenten selbst bei Rotweinen eine Restsüße von bis zu 20 g/l bevorzugen – und sie beschreiben solche Weine keineswegs als süß, sondern als fruchtig und weich.