Der Jahrgang 2010 wird auf jeden Fall in die Annalen eingehen – als einer der größten Süßwein-Jahrgänge der letzten 25 Jahre. Beerenauslesen, Trockenbeerenauslesen, Eisweine – ja auch einfache Auslesen sind dank hoher Säuren von einer Klasse, wie man sie selten antrifft. Nicht nur dass sie langlebig sind: Sie besitzen ein unglaubliches Spiel, sie zeigen Rasse und sind von einer Exquise, wie man sie schon lange nicht mehr gehabt hat – jedenfalls beim Riesling.
Aber was ist mit den trockenen Weinen? Trockene (beziehungsweise trocken schmeckende) Weine machen 50 Prozent der deutschen Weinproduktion aus. Und der kühle Sommer mit dem niederschlagsreichen September war für viele Winzer eine Katastrophe. Vor allem Müller-Thurgau, Bacchus, Weißburgunder und andere frühreife Sorten faulten am Stock oder wurden in Panik unreif geerntet. Resultat: zahllose unsaubere Weine mit unreifer Säure und grünen-Apfel-Aromen.
Die Wende kam am 3. Oktober
„Wir sahen das Unheil auch schon auf uns zukommen“, erinnert sich Jochen Becker-Köhn vom Weingut Robert Weil. Er ist der rechte Arm des Betriebsleiters Wilhelm Weil. Auf dem renommierten Rheingauer Weingut wurden aus Sorge, das feuchte, kühle Wetter könne anhalten, auch schon Ende September die ersten Trauben gelesen – doch nur ein ganz kleiner Teil. Am 3. Oktober wendete sich dann plötzlich das Blatt. Die Sonne kam durch, die Niederschläge ließen nach. In den Beeren begann der Säureumbau. Ein Goldener Oktober setzte ein, der bis in den November hinein dauerte. Für jene Weingüter, die Geduld und gute Nerven gehabt hatten, die letzte Chance, ihre Trauben zur Reife zu bringen.
Bei Robert Weil wurde diese Chance genutzt. Ab Mitte Oktober etwa begann die Hauptlese. Die Trauben konnten gesund und vollreif eingebracht werden, und zwar so, dass weder Korrekturen am Most noch am Wein nötig waren. Damit gehört Robert Weil zu den ganz wenigen deutschen Weingütern, die in 2010 ohne kellertechnische Interventionen ausgekommen sind. Alles, was diese Weine mitbringen, ist das Resultat des natürlichen Ausreifens der Trauben.
Am Ende haben die Trauben dieselbe Reife aufgewiesen wie der hoch gelobte 2009er Jahrgang. Der Unterschied bestand in der höheren Säure – ein Umstand, der im Falle Robert Weil dazu führt, die 2010er noch einen Tick höher einzuschätzen als die Weine des Vorgänger-Jahrgangs.
Keine Entsäuerung, kein BSA
Fast alle anderen deutschen Weingüter waren 2010 gezwungen, die Säure zu kappen. Zu hoch war der Anteil der Apfelsäure im Wein, bedingt durch die verspätete Blüte, den kühlen Sommer und die kurze Reifezeit. Die meisten Winzer haben in dieser Situation einfach einen biologischen Säureabbau gemacht, wie sie es an den Weinbauschulen in Geisenheim und anderswo gelernt haben. Dabei wird die Apfelsäure in weiche Milchsäure umgewandelt, so dass der Wein weniger „sauer“ und weniger hart schmeckt. „Ein biologischer Säureabbau ist für uns grundsätzlich tabu“, stellt Becker-Köhn klar und kreuzt die Finger. „Er verändert den Charakter des Riesling.“
Bessere Winzer entsäuern den Wein mit kohlensaurem Spezialkalk – genauer gesagt: den Most. Dadurch wird die Säure in gewünschtem Maß abgebaut. Das Calcium wird noch vor der Gärung ausgefällt und kann aus dem Most entfernt werden. Mit Fingerspitzengefühl durchgeführt, ist die Mostentsäuerung nicht nur eine erlaubte, sondern auch eine notwendige Maßnahme, um in schwierigen Jahren harmonische Weine zu bekommen.
Vor allem ist eine Mostentsäuerung allemal besser, als Weine mit hoher Säure hinterher mit Süßreserve abzurunden – was bequeme Winzer am liebsten tun. Liebliche Weine mit unreifer Säure – grauenhaft! Selten wurden so viele restsüße Weine gefüllt wie 2010.
Das Geheimnis: gute Lagen und Geduld
Auf all diese Interventionen kann ein Weingut freilich nur dann verzichten, wenn es Spitzenlagen besitzt. Lagen, in denen die Trauben auch in Jahren mit geringerer Licht- und Sonnenenergie ausreifen können. Die 75 Hektar, die das Weingut Robert Weil um Kiedrich bewirtschaftet, sind fast ausschließlich Berglagen, bis 240 Meter über dem Rhein gelegen: gut belüftete Weinberge, die das Fäulnisrisiko minimieren, sowie karge, steinreiche Böden an den Hängen des Taunus, an denen man die Trauben lange hängen und reifen lassen kann. Mit dem Gräfenberg, dem Turmberg und dem Klosterberg besitzt das Weingut Robert Weil außerdem drei Erste Lagen (nach der VDP-Klassifikation).
Weils Weine zeichnen sich auch in 2010 durch einen kräftigen Körper, durch blitzsaubere Frucht, durch feine Mineralität und reife Säuren aus mit einem hohen Anteil an Weinsäure. Mir gefiel an den 2010ern besonders die kräftige, druckvolle Art, die versteckte Finesse und die für trockene Spitzenweine relativ moderaten Alkoholgehalte, die die 13 Vol.% praktisch nicht überschreiten. Besonders der Rheingau Riesling, der Gutswein, bringt mit 12 Vol.% Alkohol viel Körper und eine exzellente Struktur mit. Das Erste Gewächs vom Gräfenberg kommt erst im September in den Handel. Die edelsüßen Spezialitäten (einschließlich einer kleinen Menge Eiswein) dürften zu den besten, je geernteten Weinen gehören. Sie wurden im Rahmen dieser Verkostung nicht probiert.