Samstag Abend bin ich in St-Émilion zum Diner ins Hotel-Restaurant Château Grand Barrail eingeladen, zusammen mit Winzern des Cercle Rive Droite sowie Mitgliedern der Grand Jury Européen (Gruppe von Top-Weinjournalisten aller europäischen Länder). Es ist ein Abend mit angeregten Gesprächen. Ein „großer“ Jahrgang – so die vorherrschende Meinung.
Dieses Urteil steht dann am Sonntag ab 9 Uhr morgens auf dem Prüfstand. Auf Château Barde-Haut, wenige Kilometer außerhalb St-Émilions, präsentiert der Cercle Rive Droite seine 2010er exklusiv für die Presse. Der Cercle Rive Droite ist ein Zusammenschluss von Weingütern vom rechten Ufer Bordeaux’ (also St-Émilion, Pomerol und Satelliten-Appellationen). Meist sind dies Châteaux, die nicht ganz in vorderster Linie stehen – mit dem willkommenen Nebeneffekt, dass man hier viele Schnäppchen finden kann. Die meisten der präsentierten Weine kosten in der Subskription weniger als 20 Euro.
Die Sache hat nur einen Haken: Die Vereinigung hat ziemlich viele Mitglieder. Und so habe ich die letzten Jahre immer den ganzen Tag für die Verkostung benötigt, also von 9 bis 19 Uhr. Mal waren es 100, mal 115 Weine, die ich über die Zunge laufen lassen musste, und nicht nur edle Tropfen sind darunter, sondern auch viele einfache Bordeaux AC und Bordeaux supérieur, viele namenlose Weine aus den Côtes de Bordeaux, aus Fronsac und Canon-Fronsac.
Ein Blick auf die Probenliste zeigt, dass dieses Jahr insgesamt 158 Weine vorgestellt werden. Das ist nicht zu schaffen, denn das Verkostungstempo lässt sich nicht beliebig steigern. Auch bin ich es gewöhnt, nach jeweils zwanzig Weinen eine Viertelstunde Pause einzulegen. Auf diese Pausen zu verzichten, wäre nur ein scheinbarer Zeitgewinn: Die Konzentration ließe schneller nach, und man schafft am Ende noch weniger Weine.
Als ich zu den Pomerols komme, ist es bereits nach 13 Uhr. Die Zeit vergeht im Flug und die Weine tun das Ihre: Der 2010er Jahrgang hat extrem viel Alkohol und extrem viel Gerbstoff. Wahre Wein-Monster, die das Konzentrationsvermögen aufs Äußerste fordern. Als ich durch Pomerol und Lalande-de-Pomerol durch bin, kommen mir erste Zweifel, ob das mit dem großen oder gar Jahrhundertjahrgang wirklich so seine Richtigkeit hat. Kollege Panos Kakaviatos, der für den online-Dienst des Decanter arbeitet und bei mir am Tisch sitzt, ist schon bei der Verkostung der St-Emilions und murmelt immer wieder “grün, grün, grün” vor sich hin. Auch mich reißen nur wenige der hier vorgestellten St-Émilions vom Hocker. Allerdings muss man sagen: Wo sie gelungen sind, sind sie herausragend.
Ich verlasse Barde Haut schließlich gegen 18.30 Uhr mit knurrendem Magen. Die Verkostung der Weißweine habe ich nicht mehr geschafft. Zum Glück warten auf Château de Pressac, wohin ich zum Abendessen eingeladen bin, neben einem Glas Champagner interessante Gäste: ein französischer Landesmeister im Weindegustieren, ein älteres chinesisches Händler-Ehepaar, eine jüngere Chinesin, die in USA Finanzwirtschaft studiert hat, inzwischen in Dijon lebt und gerade dabei ist, in London ihren Master of Wine zu erwerben. Endlich entspannen!
Während wir uns bekannt machen, entzündet Jean-François Quenin, der Inhaber von Château de Pressac, ein Rebholz-Feuer im Kamin. Als das Holz zu einem Häufchen Glut zusammengesunken ist, legt er mehrere Entenbrüste auf den Rost und gart sie, bis sich Haut und Fett zu einer krossen Kruste gebildet haben. Das Fleisch aber ist noch rosa und saftig. Dazu ein Glas feiner St-Émilion – und ich vergesse die Mühen des Tages.