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Rudolf May: Silvaner für Fortgeschrittene

Ausserhalb Frankens kennt niemand Retzstadt. Das 1500 Seelen-Dorf nördlich von Würzburg liegt in einem abgeschiedenen, engen Seitental des Mains. Der Retzbach, der durch das Tal fließt, ist nur ein Rinnsal. Zwar blickt Retzstadt als ländliche Gemeinde auf eine lange Tradition als Bauerndorf zurück, in dem schon seit jeher Reben kultiviert wurden. Doch galt Retzstadt jahrelang eher als Heimat für Mischbetriebe, Genossenschaftswinzer, Ackerbauern und Viehwirte als für ambitionierte Winzer. Bis Rudolf May kam und sich und seine Silvaner an die Spitze Frankens katapultierte.

Der Wandel der Seitentäler

Erst in den späten 1980er Jahren begann der in Retzstadt verwurzelte Sohn einer Landwirtsfamilie seinen eigenen Wein zu keltern. Anfänglich auf den paar Hektar der Familie, später auf zugekauften Lagen in ganz Retzstadt. 1998 errichtete er dann das Weingut am Ortseingang. Dass die Seitentäler des Mains früher – im wahrsten Sinne des Wortes – im Schatten der prestigeträchtigen, zum Fluss hin gerichteten Lagen (wie der Würzburger Stein oder der Escherndorfer Lump) standen, liegt am damaligen Klima. Im nasskalten Wetter hatten die sonnenexponierten Trauben in Flußnähe mehr Chancen, richtig reif zu werden, als im verwinkelten Retzstadt. In Zeiten heißer, trockener Sommer schwindet dieser Vorteil. Heute kommen aus dem Seitental des Mains Silvaner, so filigran und reichhaltig wie nie zuvor.

Blick auf Retzstadt.

Mittlerweile leitet Rudolf May das Weingut gemeinsam mit seinem Sohn Benedikt. Neben der fränkischen Leitsorte Silvaner keltert die Familie auch Spätburgunder und ein klein wenig Weißburgunder, Grauburgunder, Riesling und Rieslaner. Jüngst kam auch noch ein Chardonnay-Weinberg hinzu, für den die Scheurebe weichen musste.

Nichts für Anfänger

May-Silvaner, das sagen Vater und Sohn beide, sind keine einfachen Weine. Sie leben nicht von ihrer Frucht, sondern von ihrer Struktur, ihrer puristischen, nachhaltigen Art. Alle Weine sind quasi zuckerfrei mit Werten zwischen null und einem Gramm pro Liter. „Nichts für Anfänger“ ist als Motto in das Logo des Weinguts eingearbeitet.

Rudolf May ist mit den Jahren immer minimalistischer geworden. „Wir haben uns stetig gefragt: Was kann man als nächstes weglassen?“ Heute verzichtet er auf fast alles, was das Winzerlehrbuch hergibt, setzt wenig Schwefel ein, filtriert nur grob oder gar nicht, verzichtet auf Enzyme und Reinzuchthefen. Das war nicht immer so. „Früher waren die Weine schon offener“ gibt er zu, „damals habe ich noch mit Süßreserven geglättet. Das kennt mein Sohn gar nicht mehr“, sagt May lachend. Auch seine Weine schmeckten vor zehn Jahren noch viel fruchtiger sals heute.

Silvaner im Trend der Zeit

Obwohl Rudolf May kein junger Wilder mehr ist, sondern ein gestandener Winzer, liegt er mit der stilistischen Weiterentwicklung im Trend der Zeit. Überall sind die Weißweine karger geworden. Im Burgund hat sich nach Jahren zahlreicher übermäßig breiter, buttriger und viel zu früh oxidierender Chardonnays – Stichwort Premox – ein Wandel vollzogen: junge Winzer setzen auf Säure und kompakte Silhouetten. In der Steiermark sind Winzer wie Armin Tement oder Andreas Sattler drauf und dran, die Fruchtigkeit ihrer Sauvignon Blanc zu zähmen. Und in Deutschland setzen aufstrebende Weingüter wie Huber oder Knewitz eher auf reduktive Feuersteinnoten als auf expressive Fruchtigkeit.

Aromatisch zurückgenommen

Silvaner, das große Aushängeschild Frankens, erscheint da als Rebsorte der Stunde. Mit seiner aromatisch zurückgenommenen, fast neutralen Art passt er perfekt zum kargen Stil der Mays. Anders als Riesling- oder Sauvignon- Winzer, müssen sie ihrer Rebsorte die Fruchtigkeit nicht erst abgewöhnen. Dass solch hintergründige Weine die aktuelle Nachfrage nach Spitzenwein treffen, merkt auch Rudolf May: „Unsere Großen Gewächse kommen im September auf den Markt und sind im Dezember ausverkauft“. In Franken findet sich heute fast kein May-freies Sterne-Restaurant mehr.

Fehden mit der Winzergenossenschaft

Dabei war es nicht immer so rosig. „In den 90ern war es ein Kampf, an gute Lagen zu kommen“, erinnert sich Rudolf May. Sein Alleingang sorgte für verbrannte Erde im Ort, der damals zu 100 Prozent in Hand der Winzergenossenschaft war. Die Genossenschaftswinzer sprachen sich ab: Niemand sollte der Familie May Weinberge verkaufen oder verpachten. „Das hat mir schlaflose Nächte bereitet.“

Heute ist alles einfacher. „Wir verstehen uns wieder gut“, sagt May und manövriert sein Auto über die schmalen Weinbergswege von Retzstadt in den Nachbarort Thüngersheim. Zwischendurch unterbricht er seine Sätze immer mal wieder, um auf einen seiner Weinberge am Wegrand zu deuten. Über die Jahre ist das Gut dann doch gewachsen. „Teilweise kommen heute dieselben Leute, die mir damals nichts geben wollten und bieten mir ihre Weinberge an“, sagt May. Oft hat er zugeschlagen, vor allem in spannenden Steillagen. Und so bewirtschaftet die Familie May mehr als 30 ganz verstreute Parzellen, in Retzstadt sowie in den Main-zugewandten Nachbarorten Retzbach und Thüngersheim.

Aus Bacchus wird Silvaner

Ein Stück weit sind Rudolf und Benedikt May Profiteure des Strukturwandels. Vielen Genossenschaftswinzern im Nebenerwerb fehlen Erben, die gewillt sind, nach Feierabend die Familienweinberge für einen schmalen Groschen im Dienst der Genossenschaft zu bewirtschaften. Ziehen die Kinder von Genossenschaftlern in die Großstädte, werden – dasselbe passiert gerade am Kaiserstuhl oder in Württemberg – gute Lagen frei.

Weinberge wurden umveredelt

Nur bringen diese guten Lagen nicht immer die Rebsorten mit, die Rudolf und Benedikt May suchen. Die Weinberge Frankens wimmeln nach wie vor von Altlasten der 80er und 90er Jahre, als quantitativ statt qualitativ denkende Winzer Bacchus, Domina oder Müller-Thurgau anpflanzten. Weil Rudolf Mays Winzerherz blutete, müsste er 50 Jahre alte Reben roden, setzen Mays auf das immer häufiger angewandte sogenannte „Umveredeln“. Dafür sägt man die Rebe etwa einen halben Meter über der Erde ab und belässt die Wurzeln im Boden. Anschließend pfropfen die Winzer Edelreiser, also junge Triebe der gewünschten Rebsorte, auf den abgesägten Stamm.

Ein großer Vorteil in Zeiten des Klimawandels: das intakte Wurzelwerk alter Reben kommt mit extremen Wetterlagen viel besser klar als junge Pflanzen mit ihren noch kurzen Wurzeln. In trockenen Jahren wie 2003, 2018 oder 2022 waren es vor allem die alten Weinberge, die die Winzer gut durch die Dürre brachten.

Silvaner passt am besten zum Stil des Hauses

„Man muss sich fokussieren“, sagt Rudolf May, als er durch einen jüngst umveredelten Weinberg im Retzbacher Benedikusberg geht. Früher wuchs hier Müller-Thurgau, jetzt treiben zarte Silvanerranken aus den dicken, alten Stämmen. Die Rebsorte passt nicht nur besser zum Stil des Hauses, sie verspricht auch mehr Hitzebeständigkeit, ist anders als Müller-Thurgau kaum sonnenbrandanfällig und bildet im Gegensatz zu Riesling in der Hitze keine Petrolnoten. Mittelfristig will sich das Weingut May deswegen auf Silvaner und Spätburgunder beschränken. „Vielleicht noch ein klein bisschen Chardonnay…“, überlegt May.

Mit Technik zum Erfolg

Die Möglichkeit neue Lagen zu übernehmen, hat sich vor allem durch Benedikt May aufgetan, der nach seiner Winzerlehre in der Pfalz, in Australien, an der Mosel und im Beaujolais arbeitete. „Stilistisch sind wir uns eigentlich immer einig“, sagen beide, Vater und Sohn. „Aber Benedikt ist ein Technikfreak“, schiebt der sichtlich stolze Vater hinterher.

Das schafft beiden die Freiheit, ihre Ideen punktgenauer umzusetzen. Früher, als Rudolf May die für den Traktor unpassablen Weinberge mit der Pumpe auf dem Buckel und dem Schlauch in der Hand spritzen musste, war kaum daran zu denken, noch mehr Steillagen zu übernehmen. Seit Benedikt Raupen im Betrieb eingeführt hat, die per Seilzug selbst die steilste und engste Parzelle erklimmen können, ist der Anteil an Steillagen stetig gewachsen. „Wir wollen nicht mehr viel größer werden, übernehmen aber immer mal wieder neue Lagen und geben andere ab“, erklärt Rudolf May.

Lese in kleinen Kisten

Auch die Handlese in kleinen Kisten hat sich vereinfacht. Der Vorteil kleiner Kisten gegenüber großen Bütten ist, dass die Trauben nicht zermatschen, weniger oxidieren und so mit viel weniger Schwefel reintönige Moste hervorbringen. Der Nachteil: Es ist eine Heidenarbeit. „Früher sind wir oft nicht hinterher gekommen, weil man die Kisten zwischendurch auswaschen muss“, berichtet Rudolf May, „dann hat Benedikt für 50 Euro eine defekte Hochleistungsspülmaschine für die Industrie bei Ebay gekauft und repariert.“

Letzter Feinschliff

Und so hat sich der grundlegende Stil unter Benedikt Mays Mitarbeit kaum geändert. Dennoch konnten die Weine in den vergangenen Jahren nochmal zulegen. Im Weinberg ist der Anteil an steilen Lagen gewachsen, im Keller stehen heute mehr Stückfässer aus Eichenholz, im Glas präsentieren sich die Silvaner puristischer, präziser und langlebiger.

Der Schäfer-Silvaner

Am besten lässt sich die Entwicklung des Weinguts am Schäfer-Silvaner ablesen. Weil Benedikt und Rudolf May Stück für Stück ihren Fassbestand erweitern möchten, kaufen sie jedes Jahr ein neues 1200-Liter Stückfass. Da die Natur neuer Fässer in ihren Augen aber nicht so recht zur Ruhseligkeit ihrer Großen Gewächse passt, ist das neue Fass stets für den Schäfer reserviert: ein Silvaner, dem die subtile Raucharomatik der Eiche gut steht und der als einziger in einer bauchigen Burgunderflasche abgefüllt wird.

In der zweiten und dritten Belegung kommen die Großen Gewächse ins Holzfass, das seine expressive Aromatik dann schon abgegeben hat. Das hält die Wein karg und filigran. Freunde ausladender Aromen werden hier enttäuscht. Dafür sind die Weine kompakt, kraftvoll und hallen lang nach. Nichts für Anfänger eben.

Die Weine

2021 Retzstädter Silvaner

Der Ortswein kommt aus den Retzstädter Lagen vor den Türen des Weinguts und punktet mit grünem und gelbem Apfel, ist druckvoll, aber gleichzeitig verspielt mit zarten weißen Blüten und süffiger Fruchtkomponente, die ganz ohne Süße auskommt. 12 Euro.

2021 Silvaner Benediktusberg Erste Lage

Ein Silvaner aus dem Nachbarort Thüngersheim, direkt am Main, der mehr Kargheit mitbringt als der Ortswein und an reife Schalen gelber Äpfel erinnert. Mit seiner knackigen kompakten Säure verkörpert er den May-Stil perfekt. 24 Euro.

2021 Silvaner Schäfer Erste Lage

Der Silvaner aus dem neuen Stückfass ist wunderbar cremig, mit sanft vanilligen Aromen, röschem Weißbrot und der silvanertypischen skelettierten Silhouette. Seit Jahren ein Klassiker. 30 Euro.

2021 Silvaner Himmelspfad Großes Gewächs

Das Retzstädter Top-Gewann schöpfte Rudolf May aus der Großlage Langenberg heraus und ließ es als Großes Gewächs registrieren. Der Wein ist am Anfang vernagelt und braucht viel Luft, gibt dann aber Aromen von Steinen, Sesam und Salzitrone preis. 46 Euro.

2017 Silvaner Himmelspfad Großes Gewächs

Der 2017er ähnelt dem 2021er in seiner salzigen Sesamaromatik, präsentiert sich aber offener und eingependelter, ohne seine Frische zu verlieren. Ein nach wie vor jungendlich anmutender Wein, der verdeutlicht wie gut May-Silvaner reifen können. Auf Anfrage.

2019 Pinot Noir Benediktusberg Erste Lage

Für die Spätburgunder setzen Rudolf und Benedikt May auf Barriques und kleinbeerige französische Klone. Der Beneditkusberg vereint frische Frucht, prononciertes Holz und eine stramme kräutrige Säure. 
36 Euro.

Alle Weine sind über den Weinshop www.weingut-may.de/shop erhältlich

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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