Der frühere taz-Redakteur und ehemalige Chefredakteur des Slowfood-Magazins beschäftigt sich seit Jahren mit Ernährungsthemen und der Lebensmittelproduktion. Sein Urteil über das, was wir in den Lebensmittelmärkten finden oder in Onlineshops angeboten bekommen, ist so verstörend wie das Titelbild seines Buches: ein verbrannte Scheibe Toastbrot im Totenkopf-Look: 180 Seiten über das Leerfischen der Meere, über Aquakulturen und die Seuchen, die sie verbreiten, über die Austrocknung ganzer Landstriche durch den Avocado-Anbau, über Steak und Schnitzel, die klimatisch so toxisch sind wie Braunkohle, Flugzeuge oder SUV, über die Versüßung von Lebensmitteln samt entsprechender Kalorienexplosion, über Laborfleisch, über Veggieburger, über neue Esstrends, über modernes Superfood. Alles ordentlich recherchiert, sauber eingeordnet, richtig interpretiert. Sogar der Name Tönnies fällt, obwohl das Buch vor der Coronakrise geschrieben wurde. Ob es allerdings seinen Zweck erfüllt, weiß ich nicht. Es bringt den Leser zwar zum Nachdenken, führt aber auch zu Ratlosigkeit. Was soll der aufgeklärte Konsument tun, der verhindern möchte, dass die Welt an der Lebensmittelproduktion nach westlichem Muster zugrunde geht? Sollen wir wieder Hagebuttentee trinken und Leberwurstbrot essen statt Garnelenburger mit exotischer Mangofrucht? Soll der Stadtmensch seine Tomaten auf dem Balkon selbst anbauen? Soll er sich Hühner anschaffen und sie im Vorgarten seines Reihenhauses halten? Soll er angesichts der skandalösen Tierhaltungspraktiken ganz auf Fleisch verzichten? Oder darf er wenigstens Biofleisch essen als das laut Kriener „kleinere Übel“?
Kriener liebt den Wein, das merkt man
Kriener ist kein Essenscoach. Er ist Journalist und beschreibt den Zustand westlicher Esskultur. Aber nach 180 Seiten ist er, so scheint es, selbst erschöpft von all den Katastrophenszenarien, dass es ihn drängt, sich einem versöhnlicheren Thema zuzuwenden: dem Wein. Kriener liebt nach eigenem Bekunden dieses Getränk, „kann sich kaum etwas Schöneres vorstellen als ein gemeinsam zelebriertes Essen, begleitet, verfeinert und vollendet mit einigen Gläsern Wein“. Das liest man gerne, zumal wenn man selbst ein begeisterter Weintrinker ist. Dabei ist Kriener auch beim Wein nicht unkritisch. Er geißelt die Preise teurer Franzosen, die Spekulation, die abgedrehten Verkostungsnotizen der Weinkritiker, die Schönrednereien der Weinhändler. Und er beschreibt, wie der Wein selbst zum Opfer der Klimakrise wird: von Hitzewellen und Dürren, von Fäulnis, Hagel und Sintfluten heimgesucht.
Kein Wort darüber, dass auch der Wein ein Akteur der Krise ist
Was mich allerdings wundert, ist, dass Kriener kein Wort darüber verliert, dass der Wein seinerseits ein Akteur der Krise ist. Der Weinbau nimmt weniger als ein Prozent der landwirtschaftlichen Fläche auf der Erde ein, ist aber für 15 Prozent der chemischen Pflanzenschutzmittel verantwortlich, die weltweit eingesetzt werden. Großflächige Monokulturen, maschinengerechte Anlage der Weinberge, exzessiver Kunstdüngereinsatz – all das hat die Vitalität der Reben so geschwächt, dass sie dem Schädlingsdruck nicht gewachsen sind. Bordeaux, die Champagne, Rioja und die Ausweitung der Rebanlagen in der italienischen Po-Ebene sind sinnfällige Beispiele für die Industrialisierung des europäischen Weinbaus. Aber auch die aus ökologischer Sicht bedenklichen Flurbereinigungen der 1960er und 1970er Jahre in Deutschland haben ihren Teil dazu beigetragen, dass viele Winzer keinen anderen Ausweg mehr sehen als zur chemischen Keule zu greifen, um der Bedrohung durch Peronospora und Oidium Herr zu werden. Und das für die Produktion eines Genussmittels! Da frage ich mich schon, weshalb die für die Schnitzel- und Steakproduktion wichtigsten Agrarprodukte Mais und Soja im Fadenkreuz der Kritik stehen und der Weinbau ungeschoren davonkommt
Lebt der moderne, urbane Weintrinker nur in seinem eigenen Kosmos?
Vielleicht liegt es daran, dass der aufgeklärte, urbane Weintrinker in seinem eigenem Weinkosmos lebt, in dem nur Biowinzer, VDPler, Natural Wine-Apostel und missionarische Weinhändler vorkommen, die ein reines Gewissen versprechen, so der Kunde seine Flaschen bei ihnen bestellt. Kein Zweifel: Die Zahl der Weingüter, die auf biologisch-organischen oder gar biodynamischen Weinbau umgestellt haben, ist in den letzten Jahren stark gewachsen (übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Bordeaux, in der Champagne, in Spanien und Italien). Die Konsumenten haben also tatsächlich die Möglichkeit Wein zu genießen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Kein Zweifel aber auch, dass der überwiegende Teil des Weinbaus in der Welt nie ein Bio-Zertifikat bekommen wird, weil er auf systemische Schädlingsbekämpfungsmittel nicht verzichten kann. Solange es großflächige Reben-Monokulturen gibt, wird es auch immer Probleme mit dem Schädlingsbefall geben, insbesondere in niederschlagsreichen Gebieten. Während sich der Pilzbefall in trocken-heißen Anbaugebieten auf der südlichen Erdhalbkugel, aber in Südeuropa, in Grenzen hält, stellen Oidium und Peronospera in großen Teilen der nördlichen Erdhalbkugel eine echte Herausforderung dar. Nicht dass man diese Herausforderung nicht meistern könnte: Aber umweltverträglicher Weinbau ist arbeitsintensiv und kostet Geld. Wer die Chance hat, seine Weine zu höheren Preisen zu verkaufen, kann sie nutzen. An der Gesamtsituation aber ändert das wenig. Industrieller Weinbau braucht hohe Erträge, um preiswerte Weine anbieten zu können. Er setzt, wenn der Schädlingsdruck da ist und die Mengen zu reduzieren droht, auf Chemie.
Über den Pestizideinsatz im Weinbau wird wenig geschrieben
Über die problematischen Seiten des Weinbaus liest man in der Presse wenig, auch in der Fachpresse nicht. Eine löbliche Ausnahme war der Artikel einer jungen Autorin im SZ-Magazin, die letztes Jahr die verheerenden Folgen des Spritzmitteleinsatzes in Bordeaux beschrieben hatte. Kriener erwähnt den Artikel. Aber Bordeaux ist eben auch in vielen Bereichen Südfrankreichs, Norditaliens, Rheinhessens, der Pfalz, Osteuropas, ja auch in einem kleinen natursensiblen Anbaugebiet wie Südtirol. „Wer behauptet, in 2014 einen Biowein bei uns gemacht zu haben, der lügt“, hatte mir ein namhafter Südtiroler Weinproduzent damals zugeflüstert. 2014 war ein feuchtes Jahr. Es gab viel Mehltau und viel Schimmel.
Wein hat schon lange seine Unschuld verloren
Der hohe Pestizideinsatz ist nur ein Problem des Weinbaus, ein gravierendes freilich. Aber wer sich mit 5 Euro-Weinen im Supermarkt eindeckt, wird sich deshalb ebenso wenig einen Kopf machen wie der beim Kauf eines Schnitzels aus der Tönnies-Produktion. Andere Probleme des Weinbaus wie die Bodenerosion, der Wasserverbrauch (durch die zunehmend notwendig werdende Bewässerung der Weinberge) und die dadurch bewirkte Austrocknung ganzer Landstriche (etwa in Spanien), die weingerechte Umgestaltung ganzer Landschaften einschließlich Abtragung von Hügeln und Abholzung von Wäldern (wie in den Industriewein-Anbaugebieten Kaliforniens geschehen), die Bodenverdichtung durch den Einsatz schwerer Maschinen, inzwischen auch die zunehmende Anreicherung von Kupfer aus der Biowein-Produktion in den Böden – all das gehört eigentlich dazu, wenn man vom abgebrannten Leckerland schreibt.
Man mag mich für humorlos halten oder für einen Nestbeschmutzer. Aber als „Weinkritiker“ will ich nicht nur den Wein im Glas rezensieren, sondern auch das Drumherum beschreiben. Und neben den tüchtigen, verantwortungsvollen und qualitätsbewußten Winzern, deren Zahl glücklicherweise zunimmt, gibt es Agrar-Unternehmer, für die Trauben eine Art Cash Crop sind wie Weizen, Mais, Soja. Diese Unternehmer liefern immer noch den größten Teil des Weins, der auf dem Erdball produziert wird. Das sollte man nicht vergessen. Wein, so gut er auch schmecken mag, hat schon lange seine Unschuld verloren. Wir sollten ihn nicht heilig sprechen.
Manred Kriener
“Leckerland ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur”
238 Seiten, Hirzel Verlag, 18 Euro
Danke, Jens Priewe, für die ausführliche Buchbesprechung. Das hat mich gefreut. Zwei Bermerkungen von meiner Seite: Über den Pestizideinsatz habe ich am Beispiel Bordeaux ausführlich berichtet. Vergleicht man mein Weinkapitel mit den Artikeln aus den Weinzeitungen oder Feinschmecker-Journalen, dann ist es megakritisch. Der Wein-Journalismus ist leider schon lange kein Journalismus mehr, sondern eine ständige anzeigenaffine und komplett unkritische Jubelarie. Das ist das eigentliche Problem. Alles Gute!
Was Sie über Weinjournalismus schreiben, stimmt leider. Die Kollegen nennen sich “Weinkritiker”, sind aber keine. Weinjournalismus in England und Amerika ist viel kritischer als in Deutschland.
Glänzende Analyse. Das Problem ist aber nicht zuletzt, sondern zuerst, der Käufer, der in Deutschland im Durchschnitt um die 3 € pro Flasche auszugeben bereit ist und dafür nicht nur den Wein, sondern auch das Glas, das Etikett und den Korken in unkritisierbarer Qualität erwartet. Beim Schweinefleisch ist es nicht anders, aber das hat die Überlegungen ja mit ausgelöst.
Das klingt mir doch sehr stark nach Neoliberalismus, immer die Verantwortung abgeben an den letzten in der Kette, welcher dann der Dumme ist. Wer das postuliert hat die Welt nur aus sicht von Profitsucht und -maximierung begriffen!!!
Welche persönlichen Konsequenzen zieht der Autor des Artikels aus seinen Erkenntnissen über die problematischen Seiten des Weinanbaus?
Weiterhin Wein trinken, aber nicht für 5 Euro und möglichst von Winzern, deren Arbeitsweise man kennt.