Hoch „Gertraud“: Winzer besorgt, Reben schon zu weit entwickelt

Wetter - gleissende Sonne am Himmel
Frankreich schwitzt. Italien ächzt unter der Hitze. In Spanien stehen die ersten Wälder in Flammen. Und in Deutschland ist der Vegetationsvorsprung der Reben bereits so groß, dass die Winzer den Erntebeginn vordatieren. Das bedeutet aber nicht, dass 2011 ein qualitativ guter Jahrgang wird. Im Gegenteil: Die phenolische Reife der Trauben hält mit der Zuckerreife nicht Schritt. Retten kann uns nur noch ein kühler Juli und ein moderater August.

Das Hoch, das uns der­zeit zum Schwit­zen bringt, heißt „Ger­traud“. Es beschert uns am Mon­tag und Diens­tag Tem­pe­ra­tu­ren von bis zu 35 Grad Cel­si­us. Hochsommer-Hitze. Nor­ma­ler­wei­se errei­chen die Tem­pe­ra­tu­ren erst zwi­schen dem 15. Juli und dem 15. August ihren Höhe­punkt. Was die­je­ni­gen, die jetzt ihren Urlaub gebucht haben, freut, ruft bei Win­zern gemisch­te Gefüh­le her­vor. Denn vie­ler­orts sind die Reben schon weit ent­wi­ckelt. In Deutsch­land beträgt der Vege­ta­ti­ons­vor­sprung (im Ver­gleich zu einem nor­ma­len Jahr) etwa 20 Tage. Wenn die Ent­wick­lung so wei­ter­geht (und sie geht 2011 nach Mei­nung vie­ler Exper­ten so wei­ter), wer­den die Trau­ben schon früh in die Rei­fe­pha­se ein­tre­ten. Das heißt: Die Zucker­bil­dung beginnt. Die Öchs­le­gra­de stei­gen. Die Fol­ge wäre ein frü­her Lesebeginn.

Frühester Lesebeginn seit 1893

Ann-Claude LeflaiveIn Bor­deaux rech­nen die Châ­teaux mit einem Start der Lese schon Ende August. Nor­mal beginnt die Ern­te um den 20. Sep­tem­ber her­um. Mouton-Rothschild, eher ein spät lesen­des Châ­teau, plant den Lese­be­ginn in die­sem Jahr schon für Anfang Sep­tem­ber. Ann-Claude Leflai­ve von der Domaine Leflai­ve in Puligny-Montrachet erwar­tet den Ern­te­be­ginn sogar schon für den 25. August: „So eine frü­he Lese hät­ten wir im Bur­gund seit 1893 nicht erlebt.“

Was ist so schlimm an einer frü­hen Lese? Zunächst ein­mal gar nichts. Das gan­ze Ern­te­ge­sche­hen wür­de sich nur nach vor­ne ver­la­gern. Doch wenn man genau hin­schaut, ist eine frü­he Lese mit Risi­ken ver­bun­den. De fac­to brin­gen Jah­re mit frü­her Lese sel­ten so gute Wei­ne wie Jah­re mit einer spä­ten Lese.

Reifephase im Zeitraffer

Reife Chardonnay-TraubenDenn die Rei­fe­pha­se spielt sich im Zeit­raf­fer ab. Der Zucker bil­det sich viel zu schnell. Die Rei­fe ande­rer, für den Geschmack viel wich­ti­ge­rer Ele­men­te kann mit der Ent­wick­lung der Öchs­le­gra­de nicht schritt­hal­ten. Die wich­ti­ge­ren Ele­men­te – das sind die Phe­no­le. Sie ent­schei­den dar­über, wie ein Wein schmeckt: reif, voll, kom­plex oder unreif, aggres­siv, mager. Fach­leu­te spre­chen von phe­n­o­li­scher oder aro­ma­ti­scher Rei­fe. Fré­dé­ric Mug­nier von der gleich­na­mi­gen Domaine in Chambolle-Musigny im Bur­gund beschreibt die Risi­ken so: „Ein rascher Vege­ta­ti­ons­ab­lauf birgt das Risi­ko, dass die Trau­ben zu früh reif wer­den und die Wei­ne spä­ter nicht ihre vol­le aro­ma­ti­sche Kom­ple­xi­tät bekommen.“

Das der­zei­ti­ge Hoch „Ger­traud“ bewirkt zunächst ein­mal nur, dass die Rebe frü­her in die Rei­fe­pha­se ein­tritt als sonst – in die­sem Jahr wahr­schein­lich schon Mit­te Juli. Was dann pas­siert, wird man sehen. Doch das wahr­schein­li­che Sze­na­rio lässt sich jetzt kon­stru­ie­ren: Die Trau­ben errei­chen schon früh ihre Zucker­rei­fe, sind aber noch nicht reif. Das heißt: Die Apfel­säu­re der Weiß­wei­ne ist noch chlo­ro­phyl­lig, das Tan­nin der Rot­wei­ne noch pel­zig. Der Win­zer steht vor einem Dilem­ma. Star­tet er mit der Lese, schmeckt der Wein sau­er und hart. Lässt er die Trau­ben hän­gen, ris­kiert er, dass die Öchs­le­gra­de wei­ter steigen.

Der Jahrgang 2003 lässt grüßen

Gute Win­zer las­sen ihre Trau­ben hän­gen und neh­men in Kauf, dass der spä­te­re Alko­hol­ge­halt des Weins hoch liegt. Vor allem Rot­wein­win­zer tun das. Rot­wei­ne mit „grü­nem“ Tan­nin wären kein Genuss. Und wenn sie dann trotz frü­her Lese noch 13 oder 13,5 Vol.% auf­wei­sen, sinkt der Spaß­fak­tor pro­por­tio­nal zum Alko­hol­ge­halt. Der Jahr­gang 2003 lässt grü­ßen! Er brach­te voll­mun­di­ge, aber unreif schme­cken­de Rotweine.

Nicht bes­ser waren 2003 die Rot­wei­ne jener Win­zer, die im Glau­ben, die Son­ne wer­de es schon rich­ten, ihre Spät­bur­gun­der, Caber­net Sau­vi­gnon & Co. mög­lichst lan­ge hän­gen lie­ßen. Sie haben am Ende zwar Wei­ne mit rei­fem Tan­nin, aber mar­me­la­di­ger, „gekoch­ter“ Frucht und 14,5 Vol.% Alko­hol bekom­men. Übri­gens: Die­se 2003er Wei­ne wer­den jetzt mas­sen­wei­se auf Auk­tio­nen ent­sorgt. Achtung!

Was soll der Win­zer in die­ser Lage also tun? Zunächst ein­mal auf einen küh­le­ren Juli und einen mode­ra­ten August hof­fen, damit die Vegetations- und spä­ter die Rei­fe­pha­se ver­lang­samt wird. In der End­pha­se muss er ver­su­chen, die Lese hin­aus­zu­zö­gern, bis Apfel­säu­re und Tan­ni­ne reif sind – aber nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag!

Das Glück guter Lagen

Wann genau die Lese­hel­fer raus­ge­schickt wer­den, hängt von der indi­vi­du­el­len Situa­ti­on eines jeden Wein­guts oder Châ­teau ab. Wer gute Lagen hat, wird, wenn das Wet­ter nicht plötz­lich kippt, auch 2011 ver­mut­lich einen guten Wein erzeu­gen. Denn gute Lagen hei­ßen des­halb gut, weil die Zucker­rei­fe und die phe­n­o­li­sche Rei­fe ver­hält­nis­mä­ßig par­al­lel ver­lau­fen. Also Lagen zum Bei­spiel, in denen die Tem­pe­ra­tu­ren nachts abküh­len, so dass ein Teil des tags­über gebil­de­ten Zuckers wie­der ver­stoff­wech­selt wird. In sol­chen Lagen kann man die Trau­ben hän­gen las­sen, ohne dass der Zucker steigt.

Auch die Win­zer kön­nen eine Men­ge dazu tun, dass ihr Wein­berg auch in wär­me­mä­ßi­gen Rekord­jah­ren wie 2011 im Gleich­ge­wicht bleibt. So kön­nen die Win­zer jetzt Blät­ter auf der „Mor­gen­sei­te“ der Reben (die von der Vor­mit­tags­son­ne beschie­nen wer­den) her­aus­bre­chen, um die Laub­wand zu ver­klei­nern und so ver­hin­dern, dass zu schnell zu viel Zucker gebil­det wird (die Ein­la­ge­rung des Zuckers in die Trau­ben erfolgt über Pho­to­syn­the­se, also über die Blät­ter). Wein ent­steht zwar im Wein­berg, aber nicht von selbst – guter Wein jeden­falls nicht.

Sonderfall Deutschland

Daniel WagnerDer Lese­zeit­punkt hängt aber auch von der Sor­te ab. Der Ries­ling ist eine spät­rei­fen­de Sor­te. Eine Lese Ende August oder Anfang Sep­tem­ber ist aus­ge­schlos­sen. Ende Sep­tem­ber fin­det höchs­tens die Vor­le­se statt. Die Haupt­le­se ist immer im Okto­ber. Eher sind die Trau­ben phe­n­o­lisch nicht reif. Wenn man 100 Tage vom „Bee­ren­schluss“ (Fach­aus­druck für das Ende der Blü­te) bis zur Voll­rei­fe kal­ku­liert, dann könn­te die Lese frü­hes­tens Anfang Okto­ber begin­nen. „Aber meis­tens braucht der Ries­ling 120 bis 140 Tage, um die vol­le aro­ma­ti­sche Rei­fe zu erlan­gen“, erklärt Dani­el Wag­ner vom Wein­gut Wagner-Stempel im rhein­hes­si­schen Sie­fers­heim und erin­nert dar­an, dass 2007 die Vege­ta­ti­on ähn­lich weit fort­ge­schrit­ten war. „Da hat­ten wir auch gedacht, früh lesen zu müs­sen. Dann kam ein küh­ler Sep­tem­ber und ein mil­der Okto­ber, und wir hat­ten am Ende per­fek­te Weine.“

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