Wenn die letzten Châteaux endlich hinter einem liegen, zeigt das Médoc sich von seiner schönsten Seite. Verschlafene Dörfer mit alten Landhäusern, die mal heruntergekommen, mal herausgeputzt, aber immer stilvoll sind. Lauschige, von Platanen umstandene Plätze, eine abwechslungsreiche Landschaft mit Wiesen, Weizenfeldern und Weinbergen. Im Hintergrund spiegelt sich manchmal die Gironde im Sonnenlicht.
Eines dieser Landhäuser heißt Le Reysse, ist weder heruntergekommen noch herausgeputzt, umgeben von einem Park mit Palmen und Platanen, eingefasst von einer alten, halbhohen Mauer, die das Anwesen von der Straße trennt. Die Straße ist nicht sehr befahren. Denn Touristen verirren sich nur selten in diesen abgelegenen Teil des Médoc. Und sonderlich viele Menschen leben in diesem ländlichen, stillen Teil des Bordelais auch nicht. Bégadan, das nächste Dorf, hat noch nicht einmal 900 Einwohner.
Stefan Paeffgen, der Deutsche, ist ein Zugereister. Er hat Le Reysse im letzten Jahr gekauft. Weil 4,5 Hektar Reben zu dem Besitz gehören, nennt es sich Château. Weil 4,5 Hektar Reben nur wenig ist, hat Paeffgen gleich Château Lassus mit seinen 22,5 Hektar Weinbergen mitgekauft. Beide Besitztümer gehörten einst zusammen. Und Patrick Chaumont, der Vorbesitzer, hatte keinen Nachfolger – Paeffgens Glück.
So haben Château Le Reysse und Château Lassus nun einen deutschen Besitzer. Den Wein, den Lassus produziert, verkauft er en bloc an einen Negoçiant in Bordeaux. Die 23.000 Flaschen Le Reysse verkauft er selbst. Das heißt: Er versucht, sie möglichst gut am Markt zu platzieren. Le Reysse – das ist der Wein, für den sein Herzblut fließt. Ihm gilt seine ganze Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Beim Jahrgang 2009 hat er nur noch Einfluss auf die abschließende Assemblage nehmen können. Den 2010er hat er fast von der Lese an begleitet: „Ein Wein, der durch Komplexität und Tanninstruktur begeistert“, sagt Paeffgen. So dicht und kraftvoll ist der Wein, dass er ihn wie ein klassifiziertes Gewächs zu hundert Prozent in neuem Holz ausbaut.
Er kommt als einfacher AOC Médoc auf den Markt. Doch die Weinberge, die zu Le Reysse gehören, liegen zwischen Bégadan und Port de By dicht an der Gironde. „Große Weine müssen Wasser sehen“, heißt es in Bordeaux. Keine schlechte Lage also. Der Weinberg ist mit 55 Prozent Cabernet Sauvignon und 45 Prozent Merlot bestockt. Die Reben haben ein Durchschnittsalter von 46 Jahren. Der Boden besteht dort aus tiefgründigem Kies mit Kalk- und Ton als Untergestein – ähnlich wie in den berühmten Appellationen weiter südlich. „Für mich wäre es ein Traum gewesen, den Hof meiner Eltern zwischen Köln und Aachen zu übernehmen“, gesteht Paeffgen. „Aber mein Vater meinte, dieser stände seinem ältesten Sohn zu.“ Stefan Paeffgen, die Nummer 4 in der Altersfolge, musste weichen. Er studierte Agrarwissenschaft in München, Stuttgart, Wisconsin, Paris und heuerte danach in der Düngemittelindustrie an – ein Sektor, der von Überproduktion, beinhartem Wettbewerb und permanenten Umstrukturierungen geprägt war. Paeffgen machte Karriere. Als seine Firma an einen ausländischen Mitbewerber verkauft wurde, stieg er weiter auf. „In dieser Zeit habe ich viel Geld verdient.“
Als dieser Mitbewerber seinerseits übernommen wurde, erhielt er den Auftrag, beide Firmen zu integrieren. Er verbrachte noch mehr Zeit im Flugzeug und in Konferenzräumen als vorher. Und er verdiente noch mehr. Irgendwann wurde er mit einem Goldenem Handschlag verabschiedet. „Für mich war klar, dass jetzt der richtige Augenblick gekommen war, um in die Landwirtschaft zu gehen. Aber nicht in Kartoffeln oder Weizen, sondern in den Wein.“
Paeffgens Frau und seine drei Kinder leben derzeit noch in der Nähe von Brüssel. Aber nach dem Sommer werden auch sie ins Médoc ziehen. Die beiden Söhne freuen sich riesig, seine Tochter fällt der Abschied von den Freundinnen schwer. Paeffgen selbst ist gerade dabei, ein weiteres Château zu erwerben: Clos du Moulin in St-Christoly mit 23 Hektar.
Paeffgen hat mir eine Fassprobe seines 2009ers und seines 2010ers zugeschickt. 2009 besticht durch Kraft, die mit ungeheurer Eleganz gepaart ist. 2010 besitzt sogar noch deutlich mehr Struktur. Das Tannin ist feinkörnig und reif. Keine grünen Noten zu erkennen. Ein wunderschöner Médoc-Wein, bei dem man nichts falsch machen kann. Er kostet 9,95 Euro in der Subskription. Ein paar Flaschen muss ich mir kaufen.