Es tut sich was in Alto Piemonte, wie die Vorhügel der Alpen an der italienisch-schweizerischen Grenze heißen. Sommeliers von Kalifornien bis Kopenhagen sind aufmerksam geworden auf die saftigen Nebbiolo-Weine dieser Gegend, die bislang nur wenigen Intimkennern des Piemont bekannt waren und selten im Handel auftauchten. Die Produktion ist zwar immer noch niedrig, steigt aber kontinuierlich an. Neuankömmlinge und Alteingesessene sind gerade dabei, einem schon fast vergessenen Weinanbaugebiet neues Leben einzuhauchen, und zwar mit Leidenschaft, Kapital und eigener Hände Arbeit. Sie drängen den Wald, der seit 70 Jahren zahlreiche einst ruhmvolle Weinberge in Besitz genommen hat, wieder zurück, um neue Reben pflanzen zu können oder alte vom Gestrüpp zu befreien. Auch Weinzeitschriften öffnen ihre Spalten für die Weine dieser Gegend, nicht weil sie Barolo und Barbaresco Konkurrenz machen, sondern weil sie einen ganz eigenen Ausdruck und eine eigene Eleganz aufweisen.
Christoph Künzli: Was will denn der Schweizer hier?
Einer, der hier ankam, als die Region ihren Tiefpunkt erreicht hatte, war Christoph Künzli. In den 1990ern kaufte der Schweizer, der eigentlich im Weinimportgeschäft tätig war, das Weingut Le Piane in dem Dörfchen Boca, der höchstgelegenen Sub-Appelation des Alto Piemonte. Zwischen 450 bis 550 Metern stehen seine Weinberge hier, die er damals von Antonio Cerri, dem letzten Winzer des Dorfes, gekauft hatte. Allerdings musste Künzli erstmal Wald roden, der sich in den verwilderten Weinbergen breit gemacht hatte. Eigentlich hatte er sich am Ätna niederlassen wollen, als ein befreundeter Winzer ihn auf die spektakuläre Weinregion im Norden Italiens aufmerksam machte: vorne mit weitem Blick in die Po-Ebene, hinten eingerahmt von den schneebedeckten Gipfeln des Monte Rosa-Massivs. „Antonio Cerri war damals schon über 80 und hat sein Leben lang großartige Weine für sich selbst gemacht“, erzählt Künzli. Als Cerri noch ein junger Mann war, standen in Boca 2000 Hektar unter Reben. Zehn Hektar waren es noch, als er sein Weingut an Christoph Künzli verkaufte. „Wieso pflanzt ein Schweizer hier Reben?“ fragten sich die Ortsansässigen damals irritiert, um es dem Fremden dann überraschenderweise gleich zu tun – zumindest einige. Mittlerweile zählt Boca wieder 12 Winzer.
Eigentlich ist das Alto Piemonte die Heimat des Nebbiolo
Wie Boca erging es auch den anderen Sub-Appellationen im Alto Piemonte: Gattinara, Ghemme, Sizzano, Lessona, Bramaterra, Fara, Carema. 40 000 Hektar habe die Region früher mal umfasst, schätzt der Präsident des Consorzio Alto Piemonte, Andrea Fontana. Heute sind es noch gut 500. Die nachwachsendende Winzergeneration war Anfang des 20. Jahrhunderts in die boomende Textilindustrie abgewandert, die ein sicheres Einkommen versprach. Weinberge wurden nicht mehr bearbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Nebbiolo-Anbau südlich der Po-Ebene, wo Barolo und Barbaresco beheimatet sind, an Fahrt auf. Spätestens ab den 1980er Jahren erlebten die Weine um die Stadt Alba ihren weltweiten Aufstieg. Dabei ist das Alto Piemonte eigentlich die historische Heimat des Nebbiolo. Die Sorte wird dort traditionell Spanna genannt, aber im Gegensatz zu Barolo und Barbaresco nicht reinsortig gekeltert, sondern zusammen mit anderen lokalen Sorten: Uva Rara, Croatina, Vespolina.
Die Nebbiolo-Traube kann im Alto Piemonte voll ausreifen
Es sind stille Weine. Sie besitzen Tiefe, aber auch Frucht und Säure. Das gilt für Künzlis gesamtes Sortiment vom jungen Mimmo bis zum majestätischen Boca. Entscheidend für die Weine ist natürlich die Qualität der spät reifenden Nebbiolo-Traube. Sie kann im kühlen Alto Piemonte ohne Hast und Fäulnisdruck voll ausreifen. Seine letzten Trauben bringt Künzli erst Ende Oktober ein: vollreif, aber wegen der kühlen Nächte immer noch frisch. Kein Hauch von Marmelade oder Kompott trübt den Geschmack. Der Unterschied zu einem Barolo wird vor allem in den ersten Jahren deutlich. 2015 und 2016 sind bei Künzli jetzt gut trinkbare Jahrgänge, während die südlich der Po-Ebene gewachsenen Nebbiolo-Gewächse noch völlig vom Tannin umschlossen sind.
Bramaterra, Gattinara, Ghemme, Fara: Die Reben kommen zurück
Der nächste Einsteiger nach Künzli war Dieter Heuskel. Der frühere Deutschland-Chef des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group hat 2004 seinen ersten Weinberg in Bramaterra gekauft, einer anderen Sub-Appellation des Alto Piemonte. Heute bewirtschaftet sein Weingut Le Pianelle fünf Hektar. Sein Jungwein al Forte und der Bramaterra, sein
Hauptwein, sind heute bei besten Adressen in Deutschland gelistet. 2011 erwarb dann ein norwegischer Banker das altehrwürdige Weingut Nervi in Gattinara, einer benachbarten Kleinstadt, deren Rotwein die Savoyer Könige, einst Herrscher iüber das Piemont, im 16. Jahrhundert zu ihrem Tischwein erkoren. Nun brachte ein Skandinavier den Gattinara wieder zur Blüte. Aber auch Einheimische stemmten sich gegen den Niedergang, gerade in Gattinara. Weingüter wie Travaglini und Antoniolo erlebten eine Renaissance. Im fünf Kilometer entfernten Ghemme aktivierten die Gebrüder Arlunno wieder ihren uralten Rebenbesitz. Antichi Vigneti di Cantalupo heißt ihr Weingut passend. In Fara, noch einer Sub-Appellation, begann Gilberto Boniperti 2003 die verfallenen Rebflächen seiner Großeltern wieder urbar zu machen. Gut 15 Jahre und einige Neupflanzungen später umfasst das Weingut heute wieder drei Hektar, immerhin. Bonipertis Spitzenwein Bartön zeigt gut, was in der Region steckt. Obwohl Boniperti 30 Prozent Vespolina in die Cuvée gibt, ist sein Wein fülliger, zeigt weniger von der typischen Alto-Piemonte-Kräuterigkeit, ist fülliger und erinnert stärker an Barolo als etwa die von Weine Nervi und Le Piane.
Paolo de Marchi und Roberto Conterno sind die Zugpferde
Bereits 1999 hatte Paolo de Marchi, Inhaber des berühmten Weinguts Isole e Olena im Chianti Classico, sich entschlossen, den alten Familienbesitz Villa Sperino in Lessona, einer weiteren Sub-Appellation, wieder mit Leben zu erfüllen. Eine gewisse internationale Machart kann man den Sperino-Weinen nicht absprechen. Sie sind beeriger und weniger
kräuterwürzig als die meisten anderen Weine aus dem Alto Piemonte. Der Spitzenwein erinnert an Süßkirsche, elegante Veilchen und dezent an Tabak, was Assoziationen an einen modernem Barolo weckt. Viel Energie bringt auch das aufstrebende Winzer-Duo Colombera & Garella in die Flasche, das ebenfalls Wein in Lessona anbaut. Ihre Cuvée aus Spanna, Vespolina und Uva Rara ist bissiger als der mollige Sperino, zeigt dafür aber jede Menge Sauerkirsche und raffinierte Graphittöne. Ähnlich Andrea Mosca und Giovanna Pfeffer Diaz in Brusnengo, die einen hinreissenden, leicht jodigen Bramaterra erzeugen. Den großen Knall gab es 2018, als Roberto Conterno, Erzeuger des legendären Barolo Monfortino, das Weingut Nervi von dem Norweger Banker übernahm. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist das Alto Piemonte im Fadenkreuz der Weinfachleute. „Wie so oft geht in Italien unterhalb der Oberfläche des gelackten Marktes die Post ab“, meint der Nürnberger Weinhändler Martin Kössler, der das Weingut Nervi in seinem auf naturnahe Weine spezialisierten Sortiment
bis zum Einstieg von Roberto Conterno führte. Steckt man die Nase in Nervis 2013er Lagen-Gattinara „Vigna Valferana“, denkt man erst mal an das Burgund und nicht an Nebbiolo: tief, lang, fast schon geschmirgelt samtig, aber nie samtig-vanillig oder samtig-weichgespült wie postmoderne Industrieweine.
Francesco Brigatti macht sogar einen reinsortigen Nebbiolo
Um das Alto Piemonte richtig kennenzulernen, fängt man am besten mit Francesco Brigatti an. Sein Weingut liegt in Suno bei Novara, wo er Rotweine der Appellation Colline Novaresi erzeugt. Auch Brigatti macht ruhige Weine. Sein reinsortiger Nebbiolo Möt Ziflon ist eher karg und strukturbetont, zeigt keine fette Frucht sondern zarte Aromen von Heu, getrockneten Cranberrys und Sauerkirschen. Brigatti keltert auch reinsortigen Uva Rara und Vespolina, zwei Weine die im direkten Vergleich etwas weniger Tiefe und Finesse als der Nebbiolo zeigen. Doch für den Verschnitt mit Nebbiolo, die hier im kühlen, voralpinen Klima schnell kantig und karg wird, ergeben beide Rebsorten Sinn: Vespolina als Fülle- und Uva Rara als Frische-Spritze.
Kein Grund für Kapitalanleger
Insgesamt teilen sich laut Consorzio Alto Piemonte 232 Winzer die gut 500 Hektar Rebfläche unter sich auf. Im Durchschnitt umfassen Weingüter hier also nicht mehr als ein bis zwei Hektar, und wenn man sich vor Augen führt, dass Nervi allein 29 Hektar und Le Piane etwas mehr als 10 Hektar bewirtschaften, liegt die Vermutung nahe, dass der durchschnittliche Rebenbesitz sehr, sehr klein ist. Kapitalanleger, die auf eine schnelle Rendite spekulieren, schreckt das ab. Menschen, die anpacken können, zieht das Alto Piemonte dagegen an.
Die Weine
Colombera & Garella – Bramaterra 2016
Bramaterra DOC
80 Prozent Nebbiolo mit etwas Uva Rara und Vespolina. Ein Wein, der sich traut Ecken und Kanten zu zeigen. Sauerkirsche, Graphit und modriger Waldboden – im positiven Sinn.
Preis & Bezug: 21,50€ bei Viniculture
Colombera & Garella – Lessona 2016
Lessona DOC
Der Lessona von Colombera & Garella erinnert an den Bramaterra, erweitert das Geschmacksbild aber um reife rote Jalapeño und zeigt mehr Tiefe und Finesse. Sehr gut!
Preis & Bezug: 21,50€ bei Viniculture
Sperino – Uvaggio 2015
Lessona DOC
Der Einstieg im Weingut Speriona aus 80 Prozent Nebbiolo, 15 Vespolina, 5 Croatina mit viel reife Frucht, dichter Sauerkirsche und leicht balsamischen Noten.
Preis & Bezug: 27,50€ bei Lobenbergs Gute Weine
Sperino – Lessona 2013
Lessona DOC
Das Flagschiff von Sperino mit dichter konzentrierter Süßkirsche, Veilchen, Tabak und Kamille. Kein zarter Stil sondern ein Wein, der Kraft und Tiefe mitbringt wie ein sehr guter Barolo.
Preis & Bezug: 59,80€ bei Lobenbergs Gute Weine
Francesco Brigatti – Selvalunga 2018
Colline Novaresi DOC
Ein reinsortiger Uva Rara mit viel Frische, wenig Gerbstoff und viel Kirschen- und Johannisbeeraroma. Einfach, leicht aber spaßig.
Preis & Bezug: 11,90€ bei Vinothek Laveneziana
Franceso Brigatti – Maria 2018
Colline Novaresi DOC
Ein reinsortiger Vespolina mit viel duftigen Aromen nach Blütenstaub, getrockneter Süßkirsche. Ein spannender Wein ganz ohne Nebbiolo.
Preis & Bezug: 11,90€ bei Vinothek Laveneziana
Franceso Brigatti – Möt Ziflon
Colline Novaresi DOC
Einstiegs-Nebbiolo von Brigatti mit viel Ruhe, viel Tiefe, zarten Aromen nach Heu, Cranberrys, Lorbeer und frischer Rote Bete. Der perfekte Einstieg in die Weinwelt von Alto Piemont.
Preis & Bezug: 14,90€ bei Vinothek Laveneziana
Paride Chiovine – Afrodite 2018
Colline Novaresi DOC
Reinsortiger Vespolina mit Aromen von Kirschmarmelade, blütigem Duft und viel Fülle im ersten Moment. Gut aber weniger Komplexität und Länge als Brigattis Vespolina.
Preis & Bezug: 12,50€ bei Vinothek Laveneziana
Le Piane – Maggiorina 2018
Gemischter Satz aus zig lokalen Rebsorten mit viel Biss, Sauerkirsch- und Johannisbeeraromen und unglaublichem Trinkfluss.
Preis & Bezug: 12,90€ bei Finkenweine
Le Piane – Mimmo 2016
Boca DOC
Reinsortiger Nebbiolo und so etwas wie der kleine Bruder des Boca mit zartem Tannin, viel Leichtigkeit und dieser typischen Aromatik nach frischem Lorbeer und Alpenkräutern.
Preis & Bezug: 19,90€ bei Finkenweine
Le Piane – Boca 2015
Boca DOC
Christoph Künzlis Flagschiff mit zarten aber unglaublich langem tragendem Tannin, Aromen von Thymian, Lorbeer, Veilchen und einer enormen Tiefe. Ein großer Wein!
Preis & Bezug: 49,90€ bei Finkenweine
Gilberto Boniperti – Bartön 2016
Fara DOC
Obwohl der Vespolina-Anteil mit 30 Prozent hier recht hoch ist, erinnert Bonipertis Spitzenwein an einen guten Barolo. Ein runder und perfekt abgeschmeckter Wein.
Preis & Bezug: 18,00€ bei Vinothek Laveneziana
Nervi – Gattinara 2014
Gattinara DOCG
Der „kleine“ Nervi. Im Vergleich zu Valferana und Molsino ist das ein herrlich eingänglicher Trinkgenuss. Frisch, kräutrig und wunderbar tiefenentspannt.
Preis & Bezug: 25,00€ bei K&U Weinhalle
Nervi – Valferana 2013
Gattinara DOCG
Ein reinsortiger Nebbiolo, der schmeckt wie ein sehr guter Pinot Noir aus dem Burgund. Viel Tiefe, viel Ruhe und ein zartes aber tragendes Tannin. Vielsagend und großartig!
Preis & Bezug: 39,00€ bei K&U Weinhalle
Nervi – Molsino 2013
Gattinara DOCG
Molsino ist ähnlich strukturiert wie Valferana, ebenfalls tief und burgundisch. Eine Spur mehr Biss und Finesse sind bemerkbar. Rotwein mit zarter Stilistik geht kaum besser!
Preis & Bezug: 55,00€ bei K&U Weinhalle