Sonntag, Oktober 6, 2024
7.1 C
München
spot_img

2009 Riflessi Rosso – Analyse eines „Frauenweins“

Gerhard Strunz, Italienweinhändler aus Garmisch-Partenkirchen, hat weinkenner.de eine Flasche Rotwein geschickt und gebeten ihn zu probieren. Jens Priewe ist der Bitte nachgekommen und hat einen perfekt gemachten Wein zu einem sensationell guten Preis von sechs Euro vorgefunden. Geschmeckt hat er ihm jedoch nicht. Und kaufen würde er ihn nie. „Wusste ich“, schmunzelt Strunz durchs Telefon. „Diesen Wein kaufen praktisch nur Frauen, und zwar kartonweise.“

Der Riflessi Rosso gehört zu jenen Weinen, über die auch Italienkenner nicht zwangsläufig stolpern. Er kommt aus der weinbaulich unauffälligsten Region Italiens, nämlich aus Latium. Das Anbaugebiet heißt Circeo. Ebenso unbekannt das Weingut: Azienda Agricola Sant’Andrea. Im Gambero Rosso, dem wichtigsten italienischen Weinführer, ist es zwar aufgeführt. Der Riflessi Rosso wurde aber nur mit einem Glas ausgezeichnet, der niedrigsten Wertung.

Riflessi RossoEin dunkelrubinroter, pflaumenfruchtiger Wein, der zu hundert Prozent aus Merlottrauben gewonnen wurde, aber im Gegensatz zu den berühmten Merlots der Welt fast tanninlos ist. Ein perfekt gemachter, aber völlig spannungsloser Wein, der schmuseweich am Gaumen liegt und spätestens nach dem zweiten Glas nur noch langweilt. Sagt der Kritiker.

„Ein Wein, der nicht nach den Kriterien der Weinkritiker gemacht ist“, kontert Gerhard Strunz, Weinhändler aus Garmisch-Partenkirchen, den sie wegen seiner Italienaffinität „Gerardo“ nennen. Er hat diesen Wein vor drei Jahren unter größten Bedenken ins Sortiment genommen, nicht ahnend, das er sich zu einem echten Bestseller entwickeln würde. Mehr noch: zu einem Schlüsselwein. „Und der Clou ist, dass dieser Wein fast nur von Frauen gekauft wird. Sie kommen in den Laden, fragen gezielt nach diesem Wein und nehmen ihn kartonweise mit.“

Tobias StrunzStrunz ist ein Weinhändler von altem Schrot und Korn. Er ist stolz auf seine Barolo, seine Amarone, die toskanischen Roten, die er im Keller hat. Aber er hat gemerkt, dass viele Kunden etwas ganz anderes als solche Prestigeweine wollen: einfachere, unkomplizierte Weine, die den Gaumen umschmeicheln und keine langatmigen Erklärungen benötigen. Weine, die nicht wie ein Fremdkörper auf der Zunge lasten, sondern aussagekräftig sind und geschmeidig über den Gaumen gleiten.

Dass der Riflessi Rosso ein Wein ist, auf den die Frauen fliegen, ahnte Gerardo nicht. Er wurde selbst überrascht vom Erfolg dieses Wein beim weiblichen Publikum. Zufall? Glaubt er nicht. Der niedrige Preis von sechs Euro? „Erleichtert bestimmt die Kaufentscheidung. Aber warum greifen dann nicht auch Männer zu?“

Funktionierende Mundpropaganda unter Frauen in einer Kleinstadt wie Garmisch-Partenkirchen? Wenig wahrscheinlich: „Dadurch dass wir auch online verkaufen, haben wir Kunden in ganz Deutschland, sogar in ganz Europa. Etwa in Österreich, in der Schweiz, in den Niederlanden. Auch unter diesen Kunden sind es fast nur Frauen, die den Riflessi Rosso bestellen.“

GerardoFür die wundersame Anziehungskraft dieses Wein auf Frauen hat „Gerardo“ eine Theorie: „Viele Frauen mögen kein Tannin. Sie lieben sanfte Weine mit milder Säure und viel Frucht. Der Riflessi Rosso ist so ein Wein. Er stand nur kurz auf der Maische und wurde teilweise nach der maçeration carbonique, also nach der Beaujolais-Methode, vergoren. Dadurch ist er so geschmeidig und fruchtbetont.“

Mögen Frauen kein Tannin? Jenes Element, das nach Expertenmeinung einen guten Bordeaux, einen guten Barolo, einen guten Merlot ausmacht? Auch Tobias Strunz, „Gerardos“ 31jähriger Sohn glaubt, dass viele Frauen mit dem oft pelzigen, spröden Tannin in jungen Rotweinen nicht klar kommen. Er war übrigens verantwortlich für die Aufnahme des Riflessi Rosso ins Sortiment: „Ein richtiger Frauenwein, der beim weiblichen Publikum sehr gut ankommt, da er über etwas Restsüße und eine geringe Bitterkeit verfügt.“

Strunz gesteht, dass er sich anfangs geschämt hat für den Wein. Inzwischen sagt er: „Ich kann mit dem Wein leben.“ Sogar von dem Wein leben – für einen Weinhändler nicht ganz unwichtig (www.gerardo.de).

- Anzeige -spot_img
- Anzeige -spot_img

Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

Must know

- Anzeige -spot_img

Ähnliche Artikel

- Anzeige -spot_img