Mein Tag begann im Bordelaiser Vorort Cadaujac auf Château Bouscaut. Hier standen 19 rote und 17 weiße Weine aus der Appellation Pessac-Léognan zur Probe an. Die Weißweine bestätigten den Eindruck, den auch schon die Sauternes hinterlassen hatten: Manche Weine sind ziemlich gut, sie verbinden Fülle und Nerv und liegen qualitativ deutlich über dem langjährigen Durchschnitt. Doch viele andere sind alkoholisch, hohl in der Frucht und ziemlich mau.
Auch bei den Roten ist das Bild durchwachsen: Sehr viele Weine sind extrem stark extrahiert. Die Gerbstoffe sind noch strenger, als ich es von der Verkostung beim Cercle Rive Droite in Erinnerung hatte. Vor allem haben sie noch mehr Grüntöne. Offenbar war der Cabernet am Ende des Herbstes in vielen Weingütern nicht physiologisch reif, obwohl sein Zuckergehalt spielend für 14 Vol.% gut war.
Rätselhafter Haut-Brion
Vom Mittagsbüffet auf Bouscaut kann ich mir etwas Linsensalat sichern. Unter die Linsen ist – wie ich erst im Mund feststellte – ein erklecklicher Anteil Stopfleber gemischt. Vive la France! Dann eile ich von dannen. Mein nächster Termin ist auf Château Haut-Brion. Hier wird natürlich nichts dem Zufall überlassen: deutsche Gäste, deutschsprachige Hostess. Die Weine werden dadurch allerdings nicht besser. Ja, liebe Leser, Sie lesen richtig. Ich hänge mich mit meinem Urteil weit aus dem Fenster: Die 2010er Rotweine dieses Premier Grand Cru Classé verstehe ich nicht, weder Haut-Brion, noch La Mission Haut-Brion.
Meinem sensorischen Erfahrungshorizont nach sind diese Weine deutlich überextrahiert, also viel zu hart gekeltert. James Suckling, der amerikanische Kollege, ist offensichtlich anderer Meinung. Macht nichts. Ich bin gespannt auf das Verdikt der britischen Fraktion unter den einflussreichen Bordeaux-Kritikern. Falls ich mich mit meiner Kritik an diesen Weinen irren sollte, wird es jedenfalls sehr lange dauern, bis sich das herausstellt. Da bin ich mir ganz sicher.
Crus Bourgeois unvollständig
Nach Haut-Brion wird es wieder etwas schlichter: Ich fahre zur Probe der Alliance des Crus Bourgeois in den südlichen Teil des Médoc, nach Ludon. Château d’Agassac ist ein hübsches kleines Wasserschlösschen, und wir Vertreter der Presse dürfen tatsächlich im Château selbst verkosten. Zur Probe stehen laut Pressemitteilung 200 Weine. De facto fällt aber auf, dass manche große Namen fehlen, beispielsweise Phelan-Ségur, Meyney, Bellegrave, Tayac oder Charmail, um nur ein paar zu nennen.
Nach den Querelen um die gescheiterte dreistufige Klassifikation der Crus bourgeois scheinen einige bedeutende (und in der vormaligen Klassifikation hoch eingestufte) Güter die Vereinigung verlassen zu haben. Verständlich, denn es ist ein fauler Kompromiss, auf den man sich schlussendlich geeinigt hat: Es gibt keine Stufen mehr, und eine Verkostung entscheidet jedes Jahr von neuem darüber, ob sich ein Weingut Cru bourgeois nennen darf oder nicht. Ein Jahr hü, ein Jahr hott – gerade für den Weinhandel muss das ein Alptraum sein.
Auch bei den Crus bourgeois ähnelt die Verkostung der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Kurz nach 18 Uhr, nach rund 60 Weinen, packe ich meine Sachen. Ich möchte noch Jean-Pierre Boyer in Margaux einen Besuch abstatten.
Château Bel Air Marquis d’Aligre
Monsieur Boyer ist schon in seinen Siebzigern und trotzt auf seinem kleinen und weitgehend unbekannten Weingut namens Bel Air Marquis d’Aligre allen Trends der Zeit. Die Weine werden nicht en primeur gehandelt. Überhaupt sind sie nur schwer zu finden. Seine Weinberge sind umgeben von klassifizierten Gütern. Gegenüber produziert Château Margaux den Pavillon blanc, und etwas weiter wachsen die Reben von Château Lascombes.
Boyer jedoch sitzt beharrlich auf seinem kleinen, äußerlich wenig ansehnlichen Gut und bleibt seinem Stil treu: Er hat seit gut dreißig Jahren keine neuen Reben mehr nachgepflanzt, was ihm niedrigen Ertrag, aber den Weinen eine natürliche Dichte einträgt. Auch beim Ausbau ist Boyer ein Dissident: Er verwendet keine Barriques, sondern lagert all seine Weine vor der Abfüllung drei Jahre in Zementcuves. Ich bin gespannt, wie sich sein 2010er probiert.
Und siehe da: Es ist ein Wein mit Frucht, voller Stil und Proportion und ohne Grüntöne. Tief mineralisch, und ohne jeden Überschuss an Alkohol. Während ich probiere, redet Monsieur Boyer, wie er es stets tut, ohne Unterlass. Aber er hat auch etwas zu sagen: In zwanzig Jahren, so kulminiert sein Redefluss, werde es nur noch vier, fünf Weingutsbesitzer in Margaux geben. Die Großen würden immer größer, die Kleinen verschwinden. Dabei lächelt er so verschmitzt, als kommentiere er eine Komödie.
Als ich nach Bordeaux zurückfahre, fallen mir die Reklametafeln mit dem überlebensgroßen Konterfei von Bernard Magrez auf. Alle hundert Meter säumen sie den Straßenrand. Magrez gehören insgesamt neun Güter in Bordeaux und mehr als ein Dutzend anderswo auf der Welt. Ich erinnere mich an die Worte von Monsieur Boyer. Oder lag es an Klimaanlage, dass es mir kalt über den Rücken lief?