Trinkfluss: die unheimliche Karriere eines Nonsense-Wortes

Bei den derzeit hohen Temperaturen ist Trinkfluss wichtig. Alle zehn Minuten setzt Jens Priewe deshalb die Flasche an - die Mineralwasserflasche. Bei Weinen mit Trinkfluss ist er vorsichtiger – und skeptischer.   

Wer sich Wein­pro­spek­te anschaut oder im Inter­net nach Wei­nen stö­bert, stol­pert immer öfter über den Begriff „Trink­fluss“. Leichtwein-Produzenten, Blog­ger, Influen­cer und hip­pe Som­me­liers haben das Wort in Umlauf gebracht – und (fast) alle neh­men es beglückt auf: „guter Trink­fluss“, „har­mo­ni­scher Trink­fluss“, „ange­neh­mer Trink­fluss“, „vibrie­ren­der Trink­fluss“, „Trink­fluss ohne Ende“. Sogar „mör­der Trink­fluss“ habe ich im Inter­net gefun­den. Kein ande­rer Begriff hat in den letz­ten Jah­ren eine sol­che Kar­rie­re hin­ge­legt wie die­ser Begriff. Wofür er genau steht, lässt sich schwer sagen. Jeder ver­bin­det etwas ande­res mit ihm.

Pinot Gri­gio hat eben­so Trink­fluss wie eine Ries­ling Auslese

Er ste­he „für leich­te, mil­de Weiss­wei­ne“ hat der User Mr. Spex das schil­lern­de Wort im Wein­fo­rum zu erklä­ren ver­sucht. Also Wei­ne vom Typ Pinot Gri­gio? Ver­mut­lich eher nicht. Pinot Gri­gio ist für Wein­ken­ner ein rotes Tuch, und das Wort „Trink­fluss“ ist posi­tiv besetzt. „Für alko­hol­ar­me Ries­lin­ge“ meint ein ande­rer User. Was genau er meint? Viel­leicht eine Aus­le­se von der Mosel mit 9,5 Vol.% Alko­hol? Die ist süß und sät­ti­gend. Trink­fluss kommt da eigent­lich nur bedingt auf, obwohl man­che im Forum das anders sehen. User Puschel beschei­nigt einer sol­chen Aus­le­se zum Bei­spiel „uner­hör­ten Trinkfluss“.

Spit­zen­wei­ne sind eines hohen Trink­flus­ses rela­tiv unverdächtig

Nun gilt nach gän­gi­ger Beur­tei­lungs­la­ge heu­te auch ein Wein mit 11,5 oder 12 Vol.% Alko­hol noch als Leicht­wein. In die­ser Kate­go­rie fin­det man an Mosel und in ande­ren Anbau­ge­bie­ten durch­aus auch tro­cke­ne Wei­ne: man­che etwas dünn und säu­er­lich, ande­re ange­nehm. Ihnen könn­te man Trink­fluss attes­tie­ren in dem Sin­ne, dass man gern ein zwei­tes Glas trinkt. Aber auch ein drit­tes? Ein vier­tes? Oder sogar noch mehr? Ich nicht. Dazu wäre mir ein Trinkfluss-Riesling dann doch zu ein­fach. Die Leicht­ma­tro­sen unter den Wein­trin­kern wer­den das anders sehen. Dür­fen sie. Nur müs­sen sie zuge­ben, dass sie, wenn sie sich vom Trink­fluss fort­tra­gen las­sen, am Ende mehr Alko­hol intus haben als ein Wein­trin­ker, der zwei Glas eines gehalt­vol­len,  13,5 Vol.%igen Châ­teau Canon-La-Gaffelière oder zwei Glas süd­afri­ka­ni­schen Chen­in Blanc von Cari­nus Fami­ly getrun­ken hat – Wei­ne, die eines hohen Trink­flus­ses rela­tiv unver­däch­tig, dafür von aller­höchs­ter Qua­li­tät sind.

Spass­wei­ne haben einen hohen Trinkfluss

Viel­leicht zielt Trink­fluss aber gar nicht auf den nied­ri­gen Alko­hol­ge­halt, son­dern mehr auf eine psy­cho­lo­gi­sche Qua­li­tät: leich­ter, unbe­schwer­ter Wein­ge­nuss, ohne Fach­wis­sen zu besit­zen oder sich hoch­tra­ben­de Exper­ten­kom­men­ta­re rein­zie­hen zu müs­sen. So gese­hen haben harm­lo­se Rosés, geschmink­te por­tu­gie­si­sche Vin­hos Ver­des, flüs­si­ge Urlaubs­sou­ve­nirs vom Gar­da­see à la Lug­a­na, bra­ve Spass­wei­ne wie die von Emil Bau­er, Chris­toph Ham­mel und ihrer Nach­ah­mer einen hohen Trink­fluss: Wein­chen, die sich easy trin­ken las­sen, die jeder ver­steht, die man not­falls auch mit Eis­wür­feln küh­len kann, die selbst Bier­trin­ker lecker fin­den. Stoff für Wein­fu­na­ti­ker, von denen ernst­haf­te Wein­gie­ßer nicht ein­mal ein ein­zi­ges Glas run­ter­krie­gen würden.

Baro­lo & Bor­deaux chan­cen­los in der Trinkfluss-Welt

Den­noch: So erfolg­reich scheint das Argu­ment vom Trink­fluss zu sein, dass es inzwi­schen allen mög­li­chen und unmög­li­chen Wei­nen ange­hängt wird, unab­hän­gig von Her­kunft, Alko­hol­ge­halt, Reb­sor­te, Fun-Faktor: öster­rei­chi­schem Grü­nen Velt­li­ner eben­so wie rhein­hes­si­schem Sau­vi­gnon, Elsäs­ser Pinot Blanc, grie­chi­schem Assyr­ti­ko, Gro­ßen Gewäch­sen aus der Pfalz mit 13,5 Vol.% und ita­lie­ni­schem Soave. Selbst Rot­wei­ne sind vor dem Trinkfluss-Argument nicht mehr sicher. Das Wein­kom­bi­nat schreibt dem Unlit­ro aus dem tos­ka­ni­schen Wein­gut Ampeleia „immensen Trink­fluss“ zu. Der Online­shop Wein­quel­le bie­tet eine spa­ni­sche Reser­va „mit Trink­fluss“ an, Rind­chens Wein­kon­tor hat einem Côtes du Rhô­ne einen „wun­der­bar süd­li­chen Trink­fluss“ attes­tiert. Baro­lo, Her­mi­ta­ge, Vega Sici­lia, Spit­zen­wei­ne aus Bor­deaux oder Kali­for­ni­en – sie alle sind in der Trinkfluss-Welt chancenlos.

Trink­fluss wird zur kom­mer­zi­el­len Vokabel

Trink­fluss – das ist der augen­blick­lich chics­te Nonsense-Begriff, der in Wein­krei­sen kur­siert. Er kann alles bedeu­ten, und bedeu­tet doch gar nichts. Wo der Laie frü­her „lecker“ sag­te, weil der Wein ihm schmeck­te und er sich gern ein wei­te­res Glas ein­schenk­te, loben die vino­lo­gi­schen Small­tal­ker jetzt den „Trink­fluss“ – oder bemän­geln ihn, falls der Wein ihnen nicht easy genug über die Zun­ge geht, weil er gerb­stoff­hal­tig ist, noch nicht trink­reif ist oder sich aus irgend­ei­nem Grund als sper­rig erweist.

Beson­ders gern ope­rie­ren Win­zer und Wein­händ­ler mit dem Wort – aus kla­rem, kom­mer­zi­el­len Kal­kül übri­gens. Sie hof­fen, dass ihre Kun­den gleich zwei Kar­tons statt nur zwei Fla­schen kau­fen, weil Wei­ne, die Trink­fluss ver­spre­chen, schnel­ler aus­ge­trun­ken sind. Selbst Spit­zen­win­zer erlie­gen dem Cha­ris­ma die­ses Begriffs.  Auf der Web­site von Wein­kai­ser fügt die Kun­den­be­auf­trag­te des Weh­le­ner Spit­zen­wein­guts Joh. Jos. Prüm ihrem Post die Auf­for­de­rung an:  „…aber auf jeden Fall genug Wein ein­kau­fen, denn restüs­se Wei­ne haben einen wei­te­ren ganz ent­schei­den­den Vor­teil: nied­ri­ge Alko­hol­wer­te und (oder daher) Trinkfluss“.

 

 

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