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Trinkfluss: die unheimliche Karriere eines Nonsense-Wortes

Wer sich Weinprospekte anschaut oder im Internet nach Weinen stöbert, stolpert immer öfter über den Begriff „Trinkfluss“. Leichtwein-Produzenten, Blogger, Influencer und hippe Sommeliers haben das Wort in Umlauf gebracht – und (fast) alle nehmen es beglückt auf: „guter Trinkfluss“, „harmonischer Trinkfluss“, „angenehmer Trinkfluss“, „vibrierender Trinkfluss“, „Trinkfluss ohne Ende“. Sogar „mörder Trinkfluss“ habe ich im Internet gefunden. Kein anderer Begriff hat in den letzten Jahren eine solche Karriere hingelegt wie dieser Begriff. Wofür er genau steht, lässt sich schwer sagen. Jeder verbindet etwas anderes mit ihm.

Pinot Grigio hat ebenso Trinkfluss wie eine Riesling Auslese

Er stehe „für leichte, milde Weissweine“ hat der User Mr. Spex das schillernde Wort im Weinforum zu erklären versucht. Also Weine vom Typ Pinot Grigio? Vermutlich eher nicht. Pinot Grigio ist für Weinkenner ein rotes Tuch, und das Wort „Trinkfluss“ ist positiv besetzt. „Für alkoholarme Rieslinge“ meint ein anderer User. Was genau er meint? Vielleicht eine Auslese von der Mosel mit 9,5 Vol.% Alkohol? Die ist süß und sättigend. Trinkfluss kommt da eigentlich nur bedingt auf, obwohl manche im Forum das anders sehen. User Puschel bescheinigt einer solchen Auslese zum Beispiel „unerhörten Trinkfluss“.

Spitzenweine sind eines hohen Trinkflusses relativ unverdächtig

Nun gilt nach gängiger Beurteilungslage heute auch ein Wein mit 11,5 oder 12 Vol.% Alkohol noch als Leichtwein. In dieser Kategorie findet man an Mosel und in anderen Anbaugebieten durchaus auch trockene Weine: manche etwas dünn und säuerlich, andere angenehm. Ihnen könnte man Trinkfluss attestieren in dem Sinne, dass man gern ein zweites Glas trinkt. Aber auch ein drittes? Ein viertes? Oder sogar noch mehr? Ich nicht. Dazu wäre mir ein Trinkfluss-Riesling dann doch zu einfach. Die Leichtmatrosen unter den Weintrinkern werden das anders sehen. Dürfen sie. Nur müssen sie zugeben, dass sie, wenn sie sich vom Trinkfluss forttragen lassen, am Ende mehr Alkohol intus haben als ein Weintrinker, der zwei Glas eines gehaltvollen,  13,5 Vol.%igen Château Canon-La-Gaffelière oder zwei Glas südafrikanischen Chenin Blanc von Carinus Family getrunken hat – Weine, die eines hohen Trinkflusses relativ unverdächtig, dafür von allerhöchster Qualität sind.

Spassweine haben einen hohen Trinkfluss

Vielleicht zielt Trinkfluss aber gar nicht auf den niedrigen Alkoholgehalt, sondern mehr auf eine psychologische Qualität: leichter, unbeschwerter Weingenuss, ohne Fachwissen zu besitzen oder sich hochtrabende Expertenkommentare reinziehen zu müssen. So gesehen haben harmlose Rosés, geschminkte portugiesische Vinhos Verdes, flüssige Urlaubssouvenirs vom Gardasee à la Lugana, brave Spassweine wie die von Emil Bauer, Christoph Hammel und ihrer Nachahmer einen hohen Trinkfluss: Weinchen, die sich easy trinken lassen, die jeder versteht, die man notfalls auch mit Eiswürfeln kühlen kann, die selbst Biertrinker lecker finden. Stoff für Weinfunatiker, von denen ernsthafte Weingießer nicht einmal ein einziges Glas runterkriegen würden.

Barolo & Bordeaux chancenlos in der Trinkfluss-Welt

Dennoch: So erfolgreich scheint das Argument vom Trinkfluss zu sein, dass es inzwischen allen möglichen und unmöglichen Weinen angehängt wird, unabhängig von Herkunft, Alkoholgehalt, Rebsorte, Fun-Faktor: österreichischem Grünen Veltliner ebenso wie rheinhessischem Sauvignon, Elsässer Pinot Blanc, griechischem Assyrtiko, Großen Gewächsen aus der Pfalz mit 13,5 Vol.% und italienischem Soave. Selbst Rotweine sind vor dem Trinkfluss-Argument nicht mehr sicher. Das Weinkombinat schreibt dem Unlitro aus dem toskanischen Weingut Ampeleia „immensen Trinkfluss“ zu. Der Onlineshop Weinquelle bietet eine spanische Reserva „mit Trinkfluss“ an, Rindchens Weinkontor hat einem Côtes du Rhône einen „wunderbar südlichen Trinkfluss“ attestiert. Barolo, Hermitage, Vega Sicilia, Spitzenweine aus Bordeaux oder Kalifornien – sie alle sind in der Trinkfluss-Welt chancenlos.

Trinkfluss wird zur kommerziellen Vokabel

Trinkfluss – das ist der augenblicklich chicste Nonsense-Begriff, der in Weinkreisen kursiert. Er kann alles bedeuten, und bedeutet doch gar nichts. Wo der Laie früher „lecker“ sagte, weil der Wein ihm schmeckte und er sich gern ein weiteres Glas einschenkte, loben die vinologischen Smalltalker jetzt den „Trinkfluss“ – oder bemängeln ihn, falls der Wein ihnen nicht easy genug über die Zunge geht, weil er gerbstoffhaltig ist, noch nicht trinkreif ist oder sich aus irgendeinem Grund als sperrig erweist.

Besonders gern operieren Winzer und Weinhändler mit dem Wort – aus klarem, kommerziellen Kalkül übrigens. Sie hoffen, dass ihre Kunden gleich zwei Kartons statt nur zwei Flaschen kaufen, weil Weine, die Trinkfluss versprechen, schneller ausgetrunken sind. Selbst Spitzenwinzer erliegen dem Charisma dieses Begriffs.  Auf der Website von Weinkaiser fügt die Kundenbeauftragte des Wehlener Spitzenweinguts Joh. Jos. Prüm ihrem Post die Aufforderung an:  „…aber auf jeden Fall genug Wein einkaufen, denn restüsse Weine haben einen weiteren ganz entscheidenden Vorteil: niedrige Alkoholwerte und (oder daher) Trinkfluss“.

 

 

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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