Punkt 18 Uhr tauchen die ersten Aufräumkommandos auf. Sie winden den Gästen die Gläser aus der Hand und machen wortlos klar, dass nun Schluss ist. Aber die Messe ist deswegen nicht zu Ende. Zwar gehen bald die Lichter aus. Aber in Wirklichkeit ist es erst Halbzeit. Der zweite Teil des Messematches findet in der Stadt statt. Er dauert bis Mitternacht, mindestens, und es gibt Stimmen, die behaupten, die zweite Halbzeit sei die wichtigere. Da trifft man sich bei Schorn oder Berens am Kai, bei Tante Anna oder im Malkasten, im Innside oder im Monkey’s South, um zu quatschen und zu feiern, abzulachen und abzutanzen. Networking mit zwischenmenschlicher Komponente. Wein wird in der zweiten Halbzeit nicht mehr probiert. Er wird getrunken.
Nach der Messe aufs Schiff
Als ich um 18 Uhr die Messe verlasse, stolpere ich zunächst an Bord der MS River Dream, die ein paar hundert Meter vor der Messehalle vor Anker liegt. Den Ausflugdampfer hat der Stuttgarter Weinimporteur Dieter Fischer gemietet. Dort präsentiert er sein italienisches Weinsortiment. Das heißt: nicht er, sondern die Italiener selbst, von denen sich einige auf den schwankenden Boden nicht sonderlich wohl fühlen und lieber den Schettino gemacht hätten. Das Schicksal der Costa Concordia steckt ihnen noch in den Knochen. Immer wieder fragen sie, ob das Schiff auch sicher angetäut sei und nicht kentern könne. Einige Weine sind so gut, dass ich sie nicht spucken möchte. Ein Fehler. Die Rückkehr an Land über die regennasse Gangway ist ein Balanceakt.
Nächste Station: Breidenbacher Hof, wo ein Abendessen anberaumt ist. Wir trinken Leo Alzingers Steinertal Smaragd und Bernhard Hubers Großes Gewächs vom Spätburgunder aus der Bombacher Sommerhalde. Spucken ziemt sich nicht in so einem Ambiente, bei diesen Weinen schon gar nicht. So sind, als ich mich gegen 23 Uhr aus dem Sessel erhebe, die Zähne blau und die Beine schwer.
Um 23 Uhr zur nächsten Party
Rein ins Taxi zur nächsten Party. Irgendwo in der Stadt, ich weiß nicht wo, feiern die Gesellmann, Ott, Hirsch, Glatzer und der Reisetbauer. Wenn Österreicher außerhalb der Landesgrenzen aufeinandertreffen, liegen sie sich – anders als die Deutschen – vor Begeisterung in den Armen: „Jo, gibt’s denn dös?“ Man trinkt Blu Gin oder Grüner (nicht Tee, sondern Veltliner). Ein paar Alpenveilchen sind auch dabei. So heißen die Deutschen aus der süddeutschen Ösi-Fraktion. Weil sie Janker tragen und das vertraute Du pflegen, werden sie genauso geherzt wie die eigenen Landsleute. „Darf ich Sie küssen?“, fragt mich, obwohl ich keinen Janker trage, eine unbekannte Brünette. Natürlich. Ich halte die Wange hin.
Um ein Uhr morgens noch Romanée-Conti
Gegen halb eins ist dann Schluss, zumindest für mich. Müde, aber aufrechten Gangs suche ich mir ein Taxi, um zu meiner Schlafstatt zu fahren. Sie liegt in der Düsseldorfer Altstadt. Ich logiere bei Freunden. Die Freunde haben selbst gefeiert und freuen sich, dass ich schon so früh komme. Von rechts gießt mir jemand den letzten Schluck Palmer 1990 ins Glas. Links sehe ich, wie der Gastgeber eine Flasche der Domaine Romanée-Conti mit Pappe zu ummanteln versucht, um eine Blindprobe zu machen. Der Korken, der auf dem Tisch liegt, verrät: Es ist ein 1985er La Tâche. Ich protestiere. Es sei zu spät und so. Hilft glücklicherweise nichts. Der Wein ist so genial, dass ein Schluck genügt, um mich aus dem Koma zurück ins Leben zu holen. Zum Spucken fehlt mir der Wille und ein Napf. Danach kommt noch der 1983er La Tâche. Den Schlusspunkt setzt dann eine Aspirin plus. Es ist mittlerweile drei.
Am nächsten Morgen um 10 stehe ich wieder auf der Messe. „Wie geht’s?“, fragt Giorgio Giorgi, der mir als erster über den Weg läuft. „Etwas kaputt“, antworte ich. Der langjährige Frescobaldi-Repräsentant für Deutschland winkt ab: „Macht nichts. Motor kaputt, Auto läuft weiter.“
Angelo Gaja: Was soll ich eigentlich in Düsseldorf?
Zum fachlichen Teil. Über 40.000 Besucher haben die ProWein an drei Tagen besucht. Neuer Rekord. Doch wichtiger ist, dass die Stimmung besser war als im letzten Jahr. Und da war sie schon gut. Der durchschnittliche Preis eines im deutschen Lebensmittelhandel gekauften Weins ist auf 2,63 Euro pro Flasche gestiegen, hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) am Tag vor der Messeeröffnung mitgeteilt. Ein gutes Zeichen. Winzer und Händler reiben sich die Hände. Nur Angelo Gaja, der bei dem Abendessen im Breidenbacher Hof dabei war, reagiert erschrocken, als er das hört: „Was soll ich eigentlich hier in Düsseldorf?“ Sein früherer Exportmanager Willi Klinger, jetzt Chef der Österreichischen Weinmarketinggesellschaft, beruhigt ihn: „Deine Weine werden nicht im Lebensmittelhandel angeboten…“
Auch Bruno Paillard, der Champagner-König, hätte angesichts der 2,63 Euro zu Hause bleiben können. Sein Blanc de Blancs kostet um die 70 Euro pro Flasche. Trotzdem hat er angekündigt, persönlich nach Düsseldorf zu kommen und ein paar alte Jahrgangs-Champagner aufzuziehen. Sofort bildet sich eine Traube um seinen kleinen Stand. Jeder möchte einen Schluck 1999er, 1996er, 1995er abkriegen. Wer immer nur mit 2,63-Euro-Weinen zu hat, ist für eine Abwechslung dankbar.
Gedämpfte Stimmung bei den Franzosen
Ansonsten ist die Stimmung in Halle 5, in der die Franzosen untergebracht sind, gedämpft. Elsass, Chablis, Côtes-du-Rhône, Beaujolais, Bergerac, Sud-Ouest – alles keine Mode-Regionen. Entsprechend gelangweilt hocken die Franzosen in ihren Kojen und harren der Dinge. Großes Gedränge dagegen im Saal, in dem die Châteaux der Union des Grands Crus de Bordeaux ihre 2009er vorstellen. Ein magischer Jahrgang, von dem Parker sagt hatte, dass er seit dem 1982er keinen besseren getrunken habe. Ich entdecke Stephan Neipperg von Canon-La-Gaffelière in Gedanken vertieft auf einem Hocker sitzend. Statt über den 2009er unterhalten wir uns über den 2011er und anderes. Neipperg sagt: „Ich finde ihn ganz interessant.“ Allerdings meint er den Lemberger, den sein Bruder Eugen in Württemberg macht und von dem er mir vorher erzählt hat.
Spanien für 1,35 Euro
Nebenan bei den Spaniern schwillt der Geräuschpegel deutlich an. Spanien verzeichnet seit Jahren große Zuwächse im deutschen Markt. Von den teuren Ribeiras, Prioratos, Toros pfeifen sich Leute, die mit Anzug, Krawatte und Mappe unter dem Arm wie seriöses Orderpublikum aussehen, ein Glas nach dem anderen rein. In Wirklichkeit suchen viele hier nur den Verdejo für 1,35 Euro oder den Garnacha Rosé für 1,40 Euro. „Die kann ich für 5,70 Euro palettenweise verkaufen“, verrät mir arglos einer, der sich als Fachhändler aus Baden-Württemberg vorstellt. „Abzocke der Kunden“, rutscht es mir raus. „Nun lassen sie uns doch auch mal ein bisschen Geld verdienen“, blafft er zurück. Seinen Namen will ich verschweigen. Aber die Visitenkarte wies unter der Firmierung den Zusatz „Exklusive Weine“ auf.
Die Griechen sind in voller Mannschaftsstärke zur ProWein gekommen. Gut, dass sie ihre Weine in Euro, nicht in Drachmen anbieten müssen. Bulgarien, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Georgien ziehen erstaunlich viele Neugierige an. Auch die Übersee-Nationen. Die Brasilianer werden später sogar von der ProWein als einem „grandiosen Erfolg“ sprechen.
Drei Visitenkarten – Ausbeute eines Tages
Natürlich ist das alles nicht zu vergleichen mit den Italienern, die auf der ProWein allgegenwärtig sind. Ein Produzent aus dem Veneto zeigt triumphierend die Visitenkarten von drei Interessenten her, die er heute bekommen hat: die Ausbeute von neun Stunden Ausharren. Ansonsten ist Brunello wieder gefragt wie vor zehn Jahren. Auch der Amarone ist im Kommen. Das Interesse am Barolo scheint dagegen noch zögerlich zu sein. Zu unterschiedlich sind die Qualitäten der verschiedenen Erzeuger. Der große Sizilien-Hype ist vorbei, obwohl einige der besten Produzenten noch gar nicht entdeckt sind. Umso mehr gesucht ist Apulien. Dort findet sich in Italien am ehesten noch jene 1,40 Euro-Ware, die die Händler glücklich macht.
Warum er keine apulischen Weine im Angebot habe, frage ich einen bekennend italophoben Händler aus Nordrhein-Westfalen. „Alles gefälscht“, erklärt er mir. Und warum keine sizilianischen Weingüter? „Alles Geldwaschanlagen.“ Das Italienbild mancher Deutschen scheint immer noch von jenem Titelbild des SPIEGEL geprägt, das vor 40 Jahren einen Teller Spaghetti mit Revolver zeigte.
Der höchste Lärmpegel herrscht bei den Österreichern. Das liegt daran, dass die Halle 7 dicht bevölkert und relativ klein ist – wie das Land. Doch was Österreicher an Wein mitgebracht haben, ist aller Ehren wert. Vor allem die 2011er Weißweine sind herrlich. Ich probiere stichprobenhaft die Smaragde von Högl und den Leithaberg von Toni Hartl. Mehr sag ich nicht. Der Rest ist mein Geheimnis.
Deutschland ist unüberhörbar
Und Deutschland? Unübersehbar. Wie die Pfalz und der Badische Winzerkeller sich präsentieren – das sind keine Messestände mehr, das sind Bühnenbilder. Unüberhörbar sind die Deutschen auch. Die Lautstärke erzeugen nicht nur mitteilungsfreudige junge Leute, die sich magisch angezogen fühlen von Riesling & Co. Auch die Lautsprecher-verstärkten Vorträge, Diskussionen, geführte Weinproben sorgen dafür, dass die Beschallung jederzeit auf hohem Niveau gewährleistet ist. Unplugged ist hier nichts. Einmal Sommelier-Stars wie Thomas Sommer über rheinhessische Weiß- und Grauburgunder reden hören oder Hendrik Thoma beim Pfälzer Barrique-Forum zu erleben – das ist für sie ein Erlebnis.
Im Labyrinth der VDP-Güter herrscht spätestens am Nachmittag nur noch Stopp and Go. Die Großen Gewächse zu probieren, das macht auch Eng- und Niederländern Spaß, von den Norwegern und Schweden ganz zu schweigen, die mittlerweile die besten Kunden deutscher Weine geworden sind.
Stopp & Go in der Deutschlandhalle
Selbst in Österreich interessiert man sich, obwohl mit Riesling gut gesegnet, für das, was die Deutschen aus dieser Sorte machen. Ich laufe in dem Gedränge Manfred Tement und F.X. Pichler in die Arme. Letzterer hatte zwei Tage vorher im Schloss Bensberg vom FEINSCHMECKER den Wein Award für sein Lebenswerk bekommen. Die Moderatorin Barbara Schöneberger hatte ihn auf der Bühne gefragt: „Man sagt, Sie seien wortkarg, Herr Pichler.“ Darauf Pichler: „Das ist richtig.“ Als sich unsere Wege kreuzen, hat er immerhin ein paar Worte mehr parat. Es sei großartig, was er hier gekostet habe, sagt er. Und fügt sogar noch ein Wort hinzu: Teilweise.
Die deutsche Halle war übrigens die einzige, die auch nach dem Schlusspfiff noch voll war, obgleich die Gläser längst eingesammelt waren. Am Stand von Message in a Bottle ertönte laute Rockmusik, dazu gab es Freibier. Gläser wurden nicht benötigt. Man trank aus der Flasche.