Deutschland und das Alkoholproblem: Flasche leer

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schlägt Alarm: Deutschland habe ein Alkoholproblem. Stimmt. Nur welches? Jens Priewe ärgert sich über die undifferenzierte Darstellung des Alkoholmissbrauchs im Lande.

Die Deut­sche Haupt­stel­le für Sucht­fra­gen, eine vom Bun­des­fa­mi­li­en­mi­nis­te­ri­um geför­der­te Ein­rich­tung, hat letz­te Woche ihren Jah­res­be­richt 2018 der Öffent­lich­keit vor­ge­stellt. Was den Alko­hol betrifft, lau­tet das Resü­mee: „In Deutsch­land wird viel zu viel getrun­ken.“ Unter­mau­ert wird die Dia­gno­se der Sucht­ex­per­ten mit scho­ckie­ren­den Zah­len: Sta­tis­tisch gese­hen, nimmt jeder Deut­sche 9,5 Liter Rein­al­ko­hol pro Jahr zu sich – „einen Eimer voll“. Alar­mie­rend. Rech­net man aller­dings nach, ist der Eimer schon voll, wenn einer nur eine Fla­sche (0,5 l) Bier pro Tag trinkt. Alarm? Nein, Alar­mis­mus! Auf etwas mehr als 9,5 Liter rei­nen Alko­hol kommt auch, wer täg­lich ein Glas Wein trinkt (0,2 l) trinkt. Grund zur Besorg­nis? Ja, aber nicht wegen des Alko­hols, son­dern wegen Irre­füh­rung der Öffentlichkeit.

Wird das deutsche Bruttosozialprodukt etwa von lauter Alkoholkranken erwirtschaftet?

Sicher: 9,5 Liter Rein­al­ko­hol sind eine töd­li­che Men­ge, aber nur, wenn man sie auf ein­mal trinkt. Über ein Jahr gestreckt, ist die­se Men­ge weder töd­lich noch schäd­lich – sonst wür­den in der Mosel lau­ter Win­zer­lei­chen schwim­men und das Brut­to­so­zi­al­pro­dukt Deutsch­lands von kör­per­lich Kran­ken erwirt­schaf­tet. Dass die  Suchtstelle-Experten Alko­hol grund­sätz­lich für eine schlim­me Sache hal­ten, wird durch vie­le öffent­li­che State­ments ihrer Ver­tre­ter aller­dings immer wie­der deut­lich. „Es gibt kei­ne risi­ko­lo­se Men­ge Alko­hol, höchs­tens eine risi­ko­ar­me“, hat bei­spiels­wei­se Chris­ti­na Rum­mel, die stell­ver­tre­ten­de Geschäfts­füh­re­rin der Haupt­stel­le, kürz­lich in einem Inter­view mit SPIEGEL Online gesagt. Wis­sen­schaft­lich mag das kor­rekt sein. Nur wie risi­ko­arm? Ein Spa­zier­gang durch den Wald ist auch nicht risi­ko­los. Man könn­te von einem her­un­ter­fal­len­den Ast getrof­fen wer­den. Sol­len wir, auf unser Trink­ver­hal­ten über­tra­gen, wegen die­ses Rest­ri­si­kos Gewis­sens­wis­se haben, uns ein Glas Bier oder ein Glas Wein zu bestellen?

Ein Pils pro Tag entspricht einer Badewanne im Jahr

Wahr­schein­lich, zumal die Suchtstel­le die nächs­te alar­mie­ren­de Zahl prä­sen­tiert: Pro Kopf wür­den in Deutsch­land jähr­lich 134 Liter alko­ho­li­sche Geträn­ke kon­su­miert. Um die Unge­heu­er­lich­keit die­ser Men­ge deut­lich zu machen, wird dies­mal das Bild einer „gefüll­ten Bade­wan­ne“ bemüht. Tat­säch­lich ist die­ses Bild bes­tens geeig­net, den rea­lis­ti­schen Blick auf die Rela­tio­nen zu trü­ben. Gefähr­lich wären die 134 Liter nur, wenn sie aus Wod­ka oder ande­rem Hoch­pro­zen­ti­gem bestän­den. Dann hät­te die Nati­on wirk­lich ein Alko­hol­pro­blem. Tat­säch­lich aber trinkt der Deut­sche sta­tis­tisch nur 4,4 Liter Schnaps pro Jahr. Also wie­der blin­der Alarm. Wenn die „Bade­wan­ne“ mit Wein gefüllt wäre, wür­de man mög­li­cher­wei­se die Stirn run­zeln und zumin­dest einen regel­mä­ßi­gen Leber­scheck beim Arzt emp­feh­len. Ist aber auch über­flüs­sig. Der durch­schnitt­li­che Deut­sche trinkt nur knapp 25 Liter Wein im Jahr (ein­schließ­lich Schaum­wein). Bestün­den die 134 Liter aus Bier, wür­de noch deut­li­cher wer­den, wie irre­füh­rend die Zah­len sind, mit der die Suchtstel­le arbei­tet. Die Men­ge ent­spricht näm­lich unge­fähr einem Pils (0,33 l) am Tag.

Über den wahren Alkoholmissbrauch sagen die Zahlen wenig bis nichts aus

Die Bei­spie­le zei­gen: Mit die­sen Zah­len ist kei­ne Poli­tik, son­dern nur Stim­mung zu machen. Sie die­nen dazu Lösun­gen zu pro­pa­gie­ren, die kei­ne sind. Etwa ein Wer­be­ver­bot für alko­hol­hal­ti­ge Geträn­ke oder Alko­hol­steu­ern. Die­se Vor­schlä­ge füh­ren zu nichts, außer dass leicht­gläu­bi­ge Poli­ti­ker sie auf­grei­fen und in bil­li­gen Aktio­nis­mus verfallen.

Auch wenn ich auf die­ser Web­site den mode­ra­ten Wein­ge­nuss pro­pa­gie­re, ist mir klar, dass es in Deutsch­land Men­schen gibt, die die gesund­heit­lich unbe­denk­li­chen Dosen an Alko­hol regel­mä­ßig (oder quar­tals­mä­ßig) um ein Viel­fa­ches über­schrei­ten – und zwar vie­le Men­schen, zu vie­le. Die Dun­kel­zif­fer kön­nen wir nur erah­nen. Denn die 9,5 Liter Rein­al­ko­hol sind nur der sta­tis­ti­sche Mit­tel­wert. Da rund 30 Pro­zent der Deut­schen über 18 Jah­re prak­tisch gar kei­nen Alko­hol trin­ken, muss die indi­vi­du­el­le Dosis der­je­ni­gen, die kon­su­mie­ren, deut­lich höher liegen.

Belast­ba­re Zah­len gibt es dazu lei­der nicht. Wer jedoch mit wachem Blick sein pri­va­tes Umfeld durch­leuch­tet, bei sei­nem Arbeits­platz, sei­nem Sport­ver­ein, sei­nem Dorf oder sei­ner Stadt genau hin­schaut, dem kann nicht ver­bor­gen blei­ben, dass es eine nicht uner­heb­li­che Zahl von Frau­en und Män­nern gibt, die die Welt nur noch durch eine Matt­schei­be wahr­neh­men oder sich zumin­dest an den Wochen­en­den regel­mä­ßig mit Alko­hol ein­pe­geln. Ganz zu schwei­gen von der dra­ma­tisch ange­stie­ge­nen Zahl Jugend­li­cher und jun­ger Erwach­se­ner, die es spa­ßig fin­den, sich zu gege­be­nen Anläs­sen bis zum Umfal­len voll­lau­fen las­sen. 2016 waren es laut Sucht­hil­fe 22.300 Men­schen aus die­ser Alters­ko­hor­te, die wegen über­mä­ßi­gen Alko­hol­kon­sums in eine Kli­nik ein­ge­lie­fert wer­den muss­ten. Schlimm. Gar nicht zu reden von den durch Alko­hol ver­ur­sach­ten Verkehrsunfällen.

Nötig wäre der Fokus auf zwei Problemgruppen

Aller­dings ist neben einem kla­ren Blick auch ein kla­rer Kopf nötig, um die­se Befun­de rich­tig ein­zu­ord­nen. Der Alko­hol­miss­brauch fokus­siert sich in Deutsch­land näm­lich auf zwei klar defi­nier­te Pro­blem­grup­pen: Men­schen, die unter Ein­sam­keit, Stress, Depres­si­on, Schmerz lei­den. Die­se Ziel­grup­pe der psy­chisch Labi­len scheint stark zu wach­sen, und das Gefähr­li­che ist, dass der Alko­hol meist heim­lich kon­su­miert wird. Die ande­re Pro­blem­grup­pe sind die Kampf­trin­ker. Sie kon­su­mie­ren Alko­hol nur in Gesell­schaft, immer anlass­be­zo­gen, oft ritua­li­siert, gern demons­tra­tiv. Typi­sche Anläs­se sind Par­tys, Dorf­fes­te, Fuß­ball, Rock­kon­zer­te oder staat­lich orga­ni­sier­te Mas­sen­be­säuf­nis­se wie das Oktoberfest.

Den unkon­trol­lier­ten Alko­hol­ge­nuss die­ser bei­den Pro­blem­grup­pen ein­zu­däm­men – dar­um gin­ge es in Wirk­lich­keit. Nicht dar­um, die gro­ße Mehr­heit der Men­schen zu mis­sio­nie­ren, die Bier oder Wein in Maßen genie­ßen, nicht süch­tig sind, nicht gewalt­tä­tig wer­den, sich hin­ter­her nicht ins Auto set­zen, um nach Hau­se zu fah­ren. Die­se Men­schen tra­gen zwar zur „Bade­wan­ne“ bei, aber nicht zu dem GAU, den die Sucht­hel­fer glau­ben aus­lö­sen zu müssen.

Wo liegt die ungefährliche Dosis?

Wo aber lie­gen die Gren­zen zwi­schen mode­ra­tem und unkon­trol­lier­tem Alko­hol­kon­sum? All­ge­mein gül­ti­ge Wer­te gibt es nicht. Jeder Orga­nis­mus, jede Psy­che reagiert anders auf Alko­hol. Für Rau­cher, Dia­be­ti­ker, Über­ge­wich­ti­ge und Blut­hoch­druck­pa­ti­en­ten ist das Risi­ko zwei­fel­los grö­ßer als für gesun­de und bewe­gungs­ak­ti­ve Men­schen. Die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on WHO ver­zich­tet des­halb auf Ori­en­tie­rungs­wer­te. Die Exper­ten der Haupt­stel­le für Sucht­fra­gen haben dage­gen Grenz­wer­te for­mu­liert (im Ein­klang mit ande­ren medi­zi­ni­schen Orga­ni­sa­tio­nen): 12 Gramm für Frau­en, 20 Gramm für Män­ner. Auf wel­cher Grund­la­ge die­se Wer­te ermit­telt wur­den, weiß ich nicht. Ich weiß aber: Sie sind wirk­lich­keits­fremd. Für ein Pfütz­chen von 0,13 l (Frau­en) und 0,26 l (Män­ner) macht kein Mensch eine Fla­sche Wein auf. Aber das ist ver­mut­lich auch so gewollt.

Für den Wein, den ich so ger­ne trin­ke, könn­te ich jetzt in die Waag­scha­le wer­fen, dass er rela­tiv teu­er ist und der Preis allein schon eine Sucht­brem­se dar­stellt. Das tue ich aber nicht. Lie­ber bege­be ich mich in die Gesell­schaft des bösen baye­ri­schen Sati­ri­kers Ger­hard Polt, der gesagt hat: „Wo Bier aus­ge­schenkt wird, kom­men Men­schen zusam­men.“ Polt wür­de, da bin ich mir sicher, die­se Erkennt­nis auch auf Wein aus­wei­ten. Aber sicher nicht auf Apfelschorle.

4 Kommentare

  • Könn­te es even­tu­ell auch ein­fach so sein, dass Alko­hol tat­säch­lich ziem­lich schäd­lich ist und Wein wirk­lich ziem­lich viel Alko­hol ent­hält und real ein­fach nicht gesund ist, egal in wel­chen Mengen?
    Ich für mich habe das so akzep­tiert und trin­ke viel weni­ger Wein, als ich ger­ne wür­de. Aber ich wür­de auch gern viel mehr Süßig­kei­ten essen, als gut für mich ist. So ist das Leben halt, vie­le Din­ge füh­len sich kurz­fris­tig gut an, sind es aber nicht auf Dau­er. Man muss sich nicht selbst belü­gen, um mit Spaß Wein zu trin­ken. Dann ist es halt ein Gift, dann geht es halt nur sel­ten. Lasst uns das für den Moment viel­leicht mal akzep­tie­ren. Und die Fra­ge nach einer für eine brei­te Basis ver­träg­li­chen Dosis ist abso­lut relevant.

  • Zu die­sem The­ma ist ein Blick nach Frank­reich erhel­lend: Dort wird gera­de wie­der eine Debat­te aus­ge­tra­gen, die deut­lich macht, dass es mehr um Pro­fi­lie­rung und Ideo­lo­gie geht, als um kon­kre­te Maß­nah­men den – zwei­fels­oh­ne vor­han­de­nen – Alko­hol­miss­brauch zu bekämp­fen. Nach­dem die Gesund­heits­mi­nis­te­rin Bou­zyn in einem Fern­seh­in­ter­view den Satz sprach: ‘…dass auch Wein nichts ande­res als schäd­li­cher Alko­hol sei. ‘ kon­ter­te ihr Chef Macron ‘….er trin­ke Wein, mit­tags und abends.’.
    Die anschlie­ßen­de Dis­kus­si­on zwi­schen Pro­hi­bi­tio­nis­ten und Kul­tur­trä­gern des Wein­baus kann man kari­kie­rend so zusam­men­fas­sen: Die Pro­hi­bi­tio­nis­ten negie­ren mit ihrem 0-Toleranz-Ansatz die posi­ti­ven Gesund­heits­aspek­te von Wein­ge­nuss und zer­stö­ren eine der wich­tigs­ten Kul­tur­er­run­gen­schaf­ten der fran­zö­si­schen Nati­on wäh­rend die Wein”industrie” Pro­fit vor die Volks­ge­sund­heit stellt.
    Solan­ge sich die­se Dis­kus­sio­nen auf dem ideo­lo­gi­schen Feld erschöp­fen, wird es kei­ne Lösun­gen geben wie sinn­vol­le Prä­ven­ti­on aus­se­hen kann – dort wo sie not­wen­dig und sinn­voll ist. Der maß­vol­le Wein­ge­nie­ßer wird dabei eher nicht die vor­ran­gi­ge Ziel­grup­pe sein und die Grup­pe Jugend­li­cher beim Koma­saufen nimmt sich sicher auch nicht den Sassicaia-Trinker zum Vorbild.

  • Es gibt durch­aus aus Stu­di­en die posi­ti­ve Aspek­te eines mode­ra­ten regel­mä­ßi­gen Wein­kon­sums pos­tu­lie­ren => ver­rin­ger­tes Risi­ko gegen­über Herz­in­farkt, Schlag­an­fall und Dia­be­tes Typ II…

    Am Ende ist der blin­de Aktio­nis­mus aber sicher ein­fa­cher als eine geziel­te Bekämp­fung der Pro­ble­me – leider

    • Es gibt vie­le posi­ti­ve Stu­di­en zum Wein­ge­nuss. Sie las­sen sogar den Schluss zu, dass mode­rat Wein zu trin­ken gesün­der ist als kei­nen Wein zu trin­ken. Bei die­sen Stu­di­en ste­hen aber die Phe­no­le im Mittelpunkt.Ich habe sie nicht zitiert, weil es in dem Arti­kel hier nur um den Alko­hol geht.

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