In den 1990er Jahren wurde über 30 Prozent des Chianti Classico nach Deutschland exportiert. Diese Zeiten sind vorbei. Im Jahre 2017 lag der Exportanteil nur noch bei 12 Prozent. 2019 ist er auf 6 Prozent gesunken. Die wichtigsten Auslandsmärkte sind heute die USA, Kanada, Großbritannien. Schmeckt der Wein , dessen Flaschen immer noch das Symboltier Gallo Nero, der schwarze Hahn, ziert, den Deutschen plötzlich nicht mehr? Ist sein Image verstaubt? Haben andere Weine ihn verdrängt? Oder schläft der Weinhandel? Haben die Händler den Strukturwandel nicht mitgekriegt, den das Chianti Classico in den letzten 20 Jahren durchgemacht hat?
Der in Coswig bei Dresden ansässige Online-Weinhändler Superiore.de, der ganz auf Italien spezialisiert ist und nahezu ausschließlich Endkunden beliefert, hat das größte Chianti Classico-Sortiment in Deutschland, vermutlich sogar in Europa. Er verkauft den berühmten toskanischen Roten „aus vollen Rohren“, wie Lutz Heimrich, sein Inhaber, sagt. Weinkenner.de befragte ihn, warum der Wein bei seinen Kunden so beliebt ist.
weinkenner.de Der Chianti Classico hat seinen Marktanteil in Deutschland in den letzten fünf Jahren nahezu halbiert. In der Zeitschrift „Weinwirtschaft“ wurde vermutet, das Image des Weins sei möglicherweise veraltet. Teilen Sie diese Meinung?
Lutz Heimrich Das glaube ich nicht. Aber mich interessiert vor allem die Qualität der Weine, und da muss ich sagen: Der Chianti Classico war qualitativ noch nie so gut wie heute. Der Aufwand, den die Weingüter treiben, ist extrem hoch, die Umstellung auf Bio voll im Gange und das Nachhaltigkeitsdenken bei den Winzern stark ausgeprägt. An den Weinen und an der Arbeit der Weingüter kann es nicht liegen, wenn der Exportanteil zurückgeht. Altmodisch oder verstaubt – das ist Unsinn.
weinkenner.de Oder liegt es am Charakter des Chianti Classico, der von Natur aus mehr Säure als viele andere Rotweine mitbringt und auch ein kräftiges, in seiner Jugend manchmal raues Tannin aufweist?
Lutz Heimrich Jeder Mensch hat seinen eigenen Geschmack. Wer es lieber weichgespült mag, wird mit einem Chianti Classico nicht zurecht kommen. Tannin bedeutet Komplexität und Langlebigkeit, Säure steht für Frische. Wer Ahnung vom Wein hat, sucht genau das. Die Fruchtigkeit eines jungen Chianti Classico ist geradezu legendär. Wenn es am besonderen Charakter des Chianti Classico läge, dass die Nachfrage in Deutschland zurückgeht, dann frage ich mich, warum er in Amerika und Großbritannien so bliebt ist.
weinkenner.de Der Gallo Nero, der schwarze Hahn, ist das Symboltier des Chianti Classico. Ist dieses Logo vielleicht veraltet?
Lutz Heimrich Das Logo ist für uns und viele Kunden nicht mehr als „Folklore“. Ich höre auch nur noch selten von Kunden, dass sie den Wein mit dem Hahn suchen, das ist ein Relikt aus den 1990er Jahren und war und ist noch nie ein Qualitätskriterium gewesen.
weinkenner.de Geht die Nachfrage nach Chianti Classico auch bei superiore.de zurück?
Lutz Heimrich Wir spüren überhaupt keine Müdigkeit bei unseren Kunden. Im Gegenteil: Wir haben unser Chianti Classico-Sortiment in den letzten Jahren kontinuierlich ausgeweitet und bieten inzwischen über 140 verschiedene Chianti Classico an, darunter viele Boutique-Weingüter, aber auch nahezu alle großen Namen von Antinori bis Famiglia Zingarelli. Ich wüsste nicht, wer in Europa bei diesem Wein so gut aufgestellt ist wie wir. Und das Wichtigste: Wir bieten Chianti Classico nicht nur an, wir verkaufen auch jede Flasche.
weinkenner.de Vielleicht liegt der Nachfragerückgang in Deutschland am Preis. Ein Chianti Classico kostet heute zwischen 12 und 18 Euro. Ist das zu teuer?
Lutz Heimrich Für Menschen, die gewohnt waren, ihren Chianti Classico für 8,90 Euro einzukaufen, sind die heutigen Preise zweifellos zu hoch. Diese Weintrinker ziehen sich jetzt auf den einfachen Chianti aus der weiteren Toskana oder auf einen Sangiovese aus der Emilia Romagna oder aus den Marken zurück. Oder sie verlassen die Toskana und gehen auf Primitivo und Nero d’Avola. Irgendwann trennt sich eben die Spreu vom Weizen. Wir zum Beispiel haben überhaupt kein Problem, einen Chianti Classico für 15 Euro zu verkaufen. Voraussetzung: Er ist gut. Aber superiore.de ist ein Onlineshop. Wir haben 100.000 Privatkunden in ganz Deutschland und im benachbarten Ausland. Der Weinhändler in einer deutschen Kleinstadt mit 5000 Einwohnern ist in einer weniger vorteilhaften Lage. Er kann ja nicht den Standort wechseln, nur weil seine Kunden nicht bereit sind, über die 10 Euro-Schwelle zu gehen. Er muss sich nach preiswerteren Alternativen umsehen. Dafür muss man Verständnis haben.
weinkenner.de Nach der Annata kommt in der Qualitätspyramide des Chianti Classico die Riserva. Sie macht mengenmäßig zwar nur 20 Prozent der Produktion aus, aber über 40 Prozent des Umsatzes.
Lutz Heimrich Wenn es über 20 Euro geht, wird die Luft auch bei uns dünner. Trotzdem: 25 Euro für eine Chianti Classico Riserva ist für unsere Kunden keine unüberwindbare Hürde. Nur sind die, die sowas kaufen, freakiger. Die wollen genau wissen, ob Merlot oder Cabernet Sauvignon im Wein ist. Die erkundigen sich nach der Höhenlage des Weinguts. Die wissen teilweise über die Böden im Anbaugebiet Bescheid. Einige haben die Toskana mehrfach bereist und können sogar die acht Gemeinden des Chianti Classico aufzählen. Und sie überpüfen hinterher genau, ob der Wein wirklich so schmeckt wie wir ihn auf unserer Website beschrieben haben. Wir staunen selbst manchmal über die Kompetenz mancher Kunden.
weinkenner.de Zurück zu Normalkunden. Mit den Preisen hat sich auch die Qualität geändert. Eine Annata, also der Jahrgangs-Chianti Classico, ist manchmal so kräftig und tanninreich wie früher eine Riserva. Kann es sein, dass die Weingüter mit dem permanenten Upgrading der Qualitäten den Konsumenten überfordert haben?
Lutz Heimrich Das mag sein. Aber der Geschmack der Konsumenten ist normalerweise nicht statisch. Er entwickelt sich weiter. Die Qualität der Weine aus Bordeaux und aus Spanien ist ebenfalls gestiegen. Man kann einem Produzenten aus der Toskana schwerlich vorwerfen, dass er das Potenzial der Sangiovese-Traube auszureizen versucht.
weinkenner.de Vielleicht gibt es dennoch eine gewisse Sehnsucht nach dem preiswerten Chianti Classico von einst…?
Lutz Heimrich Es gibt Leute, die dem Bauernchianti und dem Chianti in der Bastflasche nachtrauern, der ja häufig noch eine kleine Restsüsse aufwies. Aber ich glaube nicht, dass diese Leute für den Rückgang der Nachfrage nach Chianti Classico in Deutschland verantwortlich sind.
weinkenner.de Das Upgrading geht ja noch weiter. Vor ein paar Jahren wurde die Gran Selezione eingeführt, also eine neue Spitzenqualität, die die Chianti Classico Reserva toppen soll. Wie kommt sie bei Ihren Kunden an?
Lutz Heimrich Wir haben unseren Kunden erklärt, was Gran Selezione ist – und unsere Kunden sind mitgegangen. Natürlich nicht alle. Aber fortgeschrittene Weintrinker sind bereit, 35 Euro und mehr für einen außergewöhnlichen Chianti Classico auszugeben.
weinkenner.de Einige Gran Selezione, etwa von Castello di Ama, Felsina, Fontodi, kosten mittlerweile 100 Euro und mehr.
Lutz Heimrich Solche Preise verlangen relativ wenige Erzeuger. Die meisten Gran Selezione liegen deutlich niedriger. Außerdem werden Preise von 35 bis 50 Euro auch beim Brunello di Montalcino bezahlt. Als der 2014er Brunello freigegeben wurde, der als schwieriger Jahrgang gilt, sind viele Sangiovese-Freaks auf die 2015er Gran Selezione vom Chianti Classico gegangen. Die kam zur gleichen Zeit auf den Markt, und der 2015er Jahrgang ist überragend. Daran sieht man: Die Gran Selezione ist eine wunderbare Brunello-Alternative.
weinkenner.de Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Chianti Classico-Liebhaber unter den Kunden, die Gran Selezione kaufen?
Lutz Heimrich Ich schätze zehn Prozent, wobei das Interesse an der Gran Selezione sicher größer ist. Aber ja, man muss auch das nötige Kleingeld besitzen, um sich mal eine Sechser-Kiste leisten zu können.
weinkenner.de Wer sind die Gran Selezione-Käufer?
Lutz Heimrich Es sind bestens informierte Weintrinker, die sich in der Toskana gut auskennen und im Laufe der Jahre ein eigenes Geschmacksprofil entwickelt haben. Sie sind in der Regel über 40 Jahre alt, häufig Akademiker, haben ein überdurchschnittliches Einkommen und kommen aus jenen Gegenden in Deutschland, in denen die höchste Kaufkraft sitzt: in Bayern, in Baden-Württemberg, im Taunus zum Beispiel.
weinkenner.de Also keine Schnäppchenjäger?
Lutz Heimrich Diese Zielgruppe reagiert nicht auf Rabatte. Und sie will auch keine „billige“ Ansprache in den Newslettern, die verschickt werden.
weinkenner.de Hat die Gran Selezione den Chianti Classico-Markt verändert? Zieht dieser Markt auch Weintrinker an, die eigentlich auf französische Premiumweine abonniert sind?
Lutz Heimrich Auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel wahnsinnige Steigerungen von belgischen Kunden, die früher französische Weine getrunken haben und jetzt bei uns Spitzen-Chianti Classico oder Supertuscans bestellen. Da zahlen sie 50 Euro und nicht 150 Euro. Bei manch francophilem Deutschen ist das auch so.
weinkenner.de Beeinflusst das Urteil der internationalen Weinkritiker die Kaufentscheidung?
Lutz Heimrich Wir veröffentlichen die Bewertungen von Galloni, Parker, Wine Enthusiast und vom Decanter, auch von James Suckling, obwohl wir von letzterem nicht so ganz überzeugt sind. Für viele unserer Kunden sind deren Urteile eine Orientierung. Die seriösen italienischen Weinkritiker zitieren wir ebenfalls. Nur Luca Maroni lasse ich weg.
weinkenner.de Ist der Chianti ein Konkurrent für den Chianti Classico?
Lutz Heimrich Für den Profi nicht. Ein Chianti, etwa aus Montespertoli oder aus den Colli Senesi, ist im Zweifelsfall ein wunderbarer Alltagswein. Er schmeckt herrlich zur Pizza oder zu Spaghetti Bolognese, und die 7 Euro, die er kostet, strapazieren das Budget des Weintrinkers nicht übermäßig stark. Einige Chianti sind dem Chianti Classico qualitativ sogar ebenbürtig. Ich denke an Frescobaldis Castello di Nipozzano aus dem Chianti Rufina oder an Selvapiana, dessen Weine sensationell gut und günstig sind. Aber Chianti Classico ist und bleibt eine Kategorie für sich.
weinkenner.de In der deutschen Weinpresse ist häufig von einer gewissen Toskana-Müdigkeit zu lesen.
Lutz Heimrich Vielleicht ist das bei den Weinhändlern so. Bei den Kunden erkenne ich keine Anzeichen dafür, dass sie toskanamüde wären. Wir machen unsere größten Umsätze mit Toskana, Piemont, Südtirol.
weinkenner.de Gilt das auch für die Super-Tuscans wie Tignanello, Sammarco, Sangioveto, Le Pergole Torte, Flaccianello, Casuccia und so weiter?
Lutz Heimrich Die sind als erstes ausverkauft.
weinkenner.de Obwohl einige dieser Weine inzwischen an der 100 Euro-Marke kratzen?
Lutz Heimrich Trotzdem.
weinkenner.de Nehmen die Cabernets und Merlots aus Bolgheri dem Chianti Classico Marktanteile weg?
Lutz Heimrich Die Schnittmenge zwischen Chianti Classico und Bolgheri ist gering. Wer Sangiovese liebt, interessiert sich nur bedingt für Weine aus internationalen Rebsorten, wie sie aus Bolgheri kommen. Auch der Preisunterschied spielt eine Rolle. Die Bolgheri Superiore beginnen bei 50 Euro und gehen bis 200 Euro, wenn ich an Sassicaia und Ornellaia denke. Das ist eine andere Liga. Wenn der Sangiovese-Liebhaber sich in Richtung Mittelmeerküste bewegt, dann schaut er eher auf die Maremma, wo die Sangiovese ja Basis des Morellino di Scansano ist. Aber dass der Chianti Classico darunter leidet, glaube ich nicht.
weinkenner.de Wenn die Nachfrage nach Chianti Classico in Deutschland allgemein sinkt, aber bei superiore.de steigt: Was machen Sie anders als andere Händler?
Lutz Heimrich Ich weiß nicht, ob andere Händler etwas falsch machen. Ich kann nur sagen, was wir machen. Das Wichtigste: Wir sind Italien-Spezialisten und kennen uns in Italien bestens aus. Dadurch sind wir den Kunden gegenüber glaubwürdig. Da wir ein reiner Onlineshop sind, kann man bei uns die Weine nicht vor Ort probieren. Wir müssen also alles Wichtige kommunizieren. Das tun wir auch. Dabei legen wir extrem großen Wert darauf, dass unsere Inhalte sachlich korrekt sind und keine Übertreibungen enthalten. Wir pushen unsere Kunden nicht.
weinkenner.de Sie bieten nicht einmal Probierpakete an?
Lutz Heimrich Weil wir stattdessen eine kleinteilige Sortierung anbieten. Wir verschicken sogar Einzelflaschen. Das heißt: Der Kunde kann sich selbst ein Probierpaket zusammenstellen. Wir haben Kunden, die 60 Einzelflaschen bestellen, um alles in Ruhe zu Hause zu probieren. Das ist zwar viel Aufwand für uns. Aber wir handeln mit Premium-Weinen. Da gilt eine andere Verkaufslogik.
weinkenner.de Hat die Corona-Krise Ihr Geschäft beflügelt?
Lutz Heimrich Im März hat die Zahl der Kunden, die bei uns bestellt haben, um 50 Prozent, im April um 100 Prozent zugenommen. Darunter sind viele Leute, die zum ersten Mal online bestellt haben. Wir kaufen, was wir aus Italien kriegen können und versuchen, es so schnell wie möglich nach Deutschland zu transportieren, um die Nachfrage bedienen zu können.