Rudi Pichler ist kein Mann großer Worte. Aber was er sagt, hat er sich genau überlegt. „Der Jahrgang 2010 ist der beste der vergangenen Dekade – aber nur für Eleganztrinker.“ Meint er das ernst? 2010 – dieses „Arschjahr“, wie das Weinportal Captain Cork verbreitete, die Hoheit über die Weinstammtische anstrebend?
2010 – das Jahr der Smaragde
Wer die Weinjahrgänge der letzten zehn Jahre mit der groben Linse abfotografiert, wird den 2006er als den größten Weinjahrgang ansehen. Er hat mächtige, extrakt- und alkoholreiche Granaten hervorgebracht, die in ihrer Fülle fast Rotweincharakter haben. Wer aber keine Explosionen im Mund möchte, sondern feinen, kitzelnden Wohlgeschmack vorzieht, ist mit 2010 besser bedient. Jedenfalls dann, wenn er sich für die Weine von Rudi Pichler entscheidet.
Pichlers einfachster Wein in 2010 ist das Federspiel vom Grünen Veltliner: blitzsauber, mineralisch-würzig, säurebetont (Federspiel heißen in der Wachau die leichten Weine mit nicht mehr als 12,5 Vol.% Alkohol). Dennoch würde ich diesen Wein, auch wenn er mit 12,90 Euro, relativ gesehen, preiswert ist, in 2010 nicht empfehlen. 2010 war ein Jahr der Smaragde. Sie sind es, die dem Jahrgang die Glanzlichter aufstecken.
Der Kollmütz – Pichlers Hausberg
Wer also bereit ist, ein paar Euro mehr für einen Weißwein auszugeben, der sich zehn, ja 20 Jahre nicht nur halten, sondern auch verfeinern wird, sollte zu Pichlers Spitzenweinen greifen. Zum Beispiel zu dem Grünen Veltliner Smaragd vom Wösendorfer Kollmütz. Der Kollmütz ist Pichlers Hausberg: eine im unteren und mittleren Teil terrassierte, oben brach liegende schiefe Ebene, die sich über der Donau bei Wösendorf erhebt, wo auch Pichlers Keller steht. Der Kollmütz ist Terroir: Löss und Gneis, teilweise nackter Fels. Die Weine riechen nach Stein und salziger Auster. Klingt komisch, lässt aber wonnige Schauder über den Rücken derjenigen laufen, die ihn trinken. Bayerns Paul Breitner liebt diesen Wein zum Beispiel endlos.
Oder Pichlers Riesling Smaragd „Von den Terrassen“, der von mehreren Lagen in und um Wösendorf kommt, nicht ganz so reich und reif ist wie der Kollmütz und eine etwas andere Mineralik aufweist: Schiefernoten mit einem Hauch von Zitronenschale und Aprikose.
Bis 23. November gelesen
Warum sind diese Weine so hochwertig? Weil sie so langsam und spät gereift sind. Erst der Oktober brachte nämlich jenes Wetter, das den Jahrgang vor dem Desaster rettete. Der mild-warme Altweibersommer setzte erst Anfang Oktober und reichte bis weit in den November. Die letzten Trauben hat Pichler erst am 23. November geerntet – so spät wie lange nicht mehr. In der letzten Phase ist die Beerenhaut dann fast geschmolzen, so warm war es tagsüber. Die Aromen sind explodiert, wiewohl die Säure dank kühler Nächte immer noch hoch blieb. Gut so, denn auf diese Weise entstanden spannungsreiche, hochkomplexe Wein, die nicht nur gut schmecken, sondern vibrieren vor Frische.
In Bausch und Bogen verteidigen würde Pichler den Jahrgang 2010 dennoch nicht: „Weine, die vor dem 8. November gelesen wurden, haben eine etwas spitze Säure“, gibt er unumwunden zu.
Pichlers Achleithen – ein Monument
Die letzten Trauben, die er 2010 erntete, kamen von seinem Riesling im Achleithen, einer extrem steilen Terrassenlage im Nachbarort Weißenkirchen. Dort sind die Terrassen förmlich in den nackten Urgesteins-Gneis hineingehauen. Nur eine kleine Menge Wein erzeugt Pichler dort. Aber dieser Wein ist wohl das größte, was in der Wachau 2010 aus dem Riesling gemacht wurde: ein eigenwilliger, mineralisch-puristischer Wein, der noch schroff und abweisend ist, aber in ein paar Jahren sich öffnen wird und Einiges von seiner Tiefe und dem Schliff, den er besitzt, preisgeben wird. In Österreich ist dieser Wein kaum noch aufzutreiben. In Deutschland gibt es noch ein paar Flaschen von ihm. Pichler, halb scheu, halb stoisch, sagt über ihn: „Ich bin zufrieden.“
Noch ein Wort zur Wachau: Seit einigen Jahren tobt dort unter Winzern, Experten, Publizisten und selbsternannten Anwälten der Weintrinker ein Streit um das, was ein guter Wachauer Riesling beziehungsweise Grüner Veltliner ist. Zunehmend abgelehnt werden in der öffentlichen Diskussion die fetten, alkoholreichen, leicht restsüßen Smaragde, die in der Vergangenheit häufig die höchsten Bewertungen erhalten hatten. Vehement gefordert werden entschlackte, geschmeidige Weine mit moderatem Alkoholgehalt, ohne Botrytis-Trauben gekeltert und ohne biologischen Säureabbau vinifiziert.
Weine ohne Botrytis und ohne Restsüße
In diesem Zusammenhang werden die Weine von Rudi Pichler häufig positiv hervorgehoben. In der Tat gehört Pichler zu denjenigen, die nur gesundes Traubengut verarbeiten und Botrytis-Trauben penibel auslesen. Die Restsüße tendiert bei ihm in der Regel gegen null.
Doch Vorsicht: Wer wie er seine Trauben als einer der letzten liest, hat keine alkoholschwachen Weine im Keller, schon gar nicht, wenn er sie durchgären lässt. Pichlers Kollmütz-Smaragd hat beispielsweise 14,4 Vol.% Alkohol. „Zugegeben, es gibt wenige Weine mit über 14 Vol.% Alkohol, die wirklich Spaß machen“, sagt er. „Aber wenn man komplexe Weine will, braucht man nun einmal vollreife Trauben.“
Alkohol hin oder her: Rudi Pichlers Weine gehören zu den Monumenten der Wachau, vor allem in 2010. Es sind anspruchsvolle Weine, nichts für Weinfun-atiker oder Leckertrinker. Selbst Schmeckblinde werden spüren, dass sie flüssigen Stein im Glas haben.