Süßer Schweiß der Engel
Am spätesten werden die Trauben für die edelsüßen Weine gelesen: im November. Sie sind dann höchst unansehnlich: braun, geschrumpelt, faul. Die Lese ist Filigranarbeit. Für Trockenbeerenauslesen müssen die Beeren teilweise mit den Fingern oder der Pinzette aus der Traube gezupft werden.
Wenn die Trauben über die Vollreife hinaus an den Stöcken hängenbleiben, beginnen sie, Saft zu verlieren. Auf diese Weise werden Zucker und Säure in den Beeren konzentriert. Das ist die Voraussetzung für die Erzeugung edelsüßer Weine. Zwei Vorgänge sind es, die den Saftschwund auslösen: das langsame Dünnerwerden und schließliche Durchlässigwerden der Beerenhaut sowie das Auftreten des Schimmelpilzes Botrytis cinerea, dessen Sporen durch die Beerenhaut wachsen und feinste Löcher hinterlassen. Im ersten Fall entstehen rosinenartige, im zweiten mit Schimmel besetzte Schrumpeltrauben. Gemeinsam ist ihnen, daß der Wasseranteil am Traubensaft (der rund 90 Prozent beträgt) durch die poröse Haut der Beeren verdunstet, so daß der Anteil der restlichen Inhaltsstoffe automatisch ansteigt. Die bekanntesten Weine, die so entstehen, sind die französischen Sauternes, die ungarischen Tokajer sowie die deutschen beziehungsweise österreichischen Beeren- und Trockenbeerenauslesen. Sie gedeihen nur in warm-feuchtem Klima und gehören zu den rarsten, teuersten und gesuchtesten Weinen der Welt. Doch was heißt Weine? Nektar, sagen die Kenner. Oder: Schweiß der Engel.
Besondere klimatische Verhältnisse
Der Schimmelpilz Botrytis cinerea tritt nur in Anbaugebieten mit gemäßigtem Klima, und dort auch nur unter bestimmten Voraussetzungen auf: wo feuchte Morgennebel auftreten, die von milder, warmer Herbstluft aufgelöst werden, so daß die Trauben im Laufe des Tages wieder abtrocknen. Solche Voraussetzungen findet man nur selten. In Sauternes bringt das Flüßchen Ciron die Feuchtigkeit und die Sonne Bordeaux’ die Wärme. In Deutschland sind es die Flüsse Rhein, Mosel, Saar und Ruwer, über denen sich die Frühnebel bilden. Die hohen Temperaturen kommen durch die intensive Herbstsonne sowie die Strahlungsthermik zustande, die vom Boden und von den Gewässern ausgeht. In Österreich ist es die Kombination Neusiedler See und pannonische Wärme, die solch einzigartige Weine hervorbringt, im ungarischen Tokaj die Verbindung der Flüsse Tisza und Bodrog mit dem Wärmestau im Karpatenbogen.
Mit und ohne Botrytis
Edelschimmel tritt nicht in jedem Jahr auf. 1985 und 1990 sind in Sauternes zum Beispiel nur wenige Trauben von der Botrytis cinerea befallen worden. Konzentration und Süße der Sauternes-Weine waren ein Resultat normaler Wasserverdunstung in den Beeren. Weine aus solchen Jahren sind etwas weniger süß und haben eine etwas höhere Säure als Botrytis-infizierte Weine. Ob diese Edelsüß-Variante den Botrytis-Weinen vorgezogen wird, hängt vom persönlichen Geschmack ab.
Größere Komplexität
Liebhaber edelsüßer Weine schmecken schnell heraus, daß Botrytis-Weine eine größere geschmackliche Komplexität als andere edelsüße Weine besitzen. Tatsächlich unterscheidet sich der Saft Botrytis-infizierter Trauben deutlich von dem normal-edelfauler Trauben. Er enthält mehr ölig-süßes Glycerin sowie mehr Essigsäure (eine flüchtige Säure) und mehrere eigene Enzyme. Außerdem baut der Edelschimmelpilz mehr Säure als Zucker ab. Botrytis-Weine schmecken daher süßer als Weine aus normal geschrumpeltem Lesegut. Bei letzteren werden Zucker und Säure im gleichen Verhältnis abgebaut.
Unerwünschte Graufäule
Feucht-warmes Klima gibt es in vielen Anbaugebieten der Welt. Wenn die Feuchtigkeit aber nicht schnell wieder trocknet, breitet sich der Botrytis-Pilz großflächig aus, insbesondere bei anhaltenden Regenfällen. Die Trauben faulen dann am Stock. Graufäule heißt diese gefürchtete Variante der Botrytis cinerea. Sie hat zur Folge, daß die Schale der Beeren aufplatzt und das Fruchtfleisch ausgewaschen wird. Dieses Risiko ist besonders in den warmen Mittelmeerländern groß. Deshalb werden, um Dessertweine zu erzeugen, die Trauben dort früh gelesen, dann auf Strohmatten getrocknet und erst nach etwa zwei Monaten gekeltert. Entsprechend zuckerreich ist der Most – aber nicht edelsüß.
Wein, der aus der Kälte kommt
Eine besondere edelsüße Rarität ist der Eiswein. Er ist ebenfalls ein edelsüßer Wein, entsteht aber dadurch, daß die Trauben in gefrorenem Zustand gelesen und gekeltert werden. Dazu ist Frost nötig. Der Wasseranteil des Traubensafts ist dann weitgehend zu Eis gefroren, so daß sich Zucker, Säuren und andere Inhaltsstoffe in dem wenigen, von der Kelter laufenden Most konzentrieren. Das heißt: Je tiefer die Temperaturen und je höher der Vereisungsgrad, desto konzentrierter der Most. Die Trauben müssen bei mindestens minus 7° C auf die Kelter kommen. Gelegentlich herrschen erst um Weihnachten herum oder im neuen Jahr solche Minustemperaturen. Eiswein, der in nennenswerten Qualitäten nur in Deutschland, Österreich und in Kanada erzeugt wird, hat eine höhere Säure als Weine aus Botrytis-infiziertem Lesegut. Zufalls- Eisweine wurden schon im 19. Jahrhundert gekeltert. In diesem Jahrhundert tauchten die ersten Eisweine 1949 an der Saar, in großem Stil dann 1961 überall in Deutschland auf. Versuche, Eiswein künstlich zu gewinnen, indem frisch gelesene, vollreife Trauben im Kühlhaus gefrostet werden, haben keine zufrieden stellenden Ergebnisse erbracht und sind inzwischen verboten.