Wenn die Lese naht
Die Menge des Zuckers, der im Traubensaft gelöst ist, wird als Mostgewicht bezeichnet. Das Mostgewicht ist ein wichtiger Indikator für Qualität – aber keineswegs der wichtigste, wie manche Winzer glauben machen möchten.
Die Reifephase der Traube beginnt mit der Färbung der Beeren im August und endet mit der Lese. Diese Zeit ist die wichtigste im kurzen Leben der Weintraube. Die Blätter beginnen nämlich, Zucker zu produzieren und in den Beeren zu speichern. Je mehr Wärme und Licht sie bekommen, desto mehr Zucker produzieren sie. Je mehr Zucker vorhanden ist, desto höher liegt später der Alkoholgehalt des Weins. Etwa 16 Gramm Zucker ergeben später ein Volumenprozent Alkohol.
Zeitpunkt der Reife
In der Reifephase verdoppeln die Beeren ihre Größe. Die Intensität der Färbung nimmt zu. Die Beerenhaut wird dünner, die Beere selbst weicher. Wie lange das dauert, hängt vom Witterungsverlauf ab – speziell im September. Der September ist der wichtigste Monat im Vegetationszyklus der Rebe. Außer mit der Zuckerproduktion ist die Rebe damit beschäftigt, die hohe Säure abzubauen, die noch in den unreifen, grünen Trauben steckt. Wenn Zucker und Säure im richtigen Verhältnis zueinander stehen, ist die Traube reif. Doch Reife- und Lesezeitpunkt sind nicht unbedingt identisch. Manche Trauben werden frühreif gelesen, andere vollreif oder überreif.
Frühe Lese im warmen Süden
In warmen Regionen startet die Lese früher, in kühlen später. Auf Zypern beginnt sie schon im Juli. Auf Sardinien und in Teilen Siziliens rücken die Lesemaschinen ab Mitte August aus. Im spanischen Penedès werden die ersten weißen Trauben teilweise Anfang September eingebracht. In diesen Gebieten ist es so warm, daß der gewünschte Zuckergehalt – und damit das notwendige Mostgewicht – meist problemlos erreicht wird. Die frühe Lese hat den Sinn, die Säure zu erhalten.
Wie der Zuckergehalt gemessen wird
Die meisten Weine haben einen Alkoholgehalt zwischen 11 und 13 Vol.%. Der Winzer kann also umrechnen, wie hoch der Zuckergehalt in seinen Beeren sein muß, um diesen Wert nach der Gärung zu erreichen. Der Zuckergehalt spiegelt sich im Mostgewicht wider. Es wird mit Hilfe eines Refraktometers oder eines Aräometers gemessen. Franzosen und Australier messen es in Baumé, Amerikaner in Brix beziehungsweise Balling, Italiener in Babo. Österreich benutzt die Skala der Klosterneuburger Mostwaage, Deutschland die Oechsle-Skala. Bei allen diesen Verfahren wird gemessen, um wieviel schwerer (genau dichter) eine Einheit Most im Vergleich zu einer Einheit Wasser ist. Der Gewichtsunterschied beruht überwiegend auf dem Zuckeranteil des Mostes. So entspricht Traubensaft mit dem spezifischen Gewicht von 1,080 (Wasser = 1,0) einem Mostgewicht von 80 Grad Oechsle, während ein Traubensaft mit einem spezifischen Gewicht von 1,100 genau 100 Grad Oechsle aufweist. Entwickelt wurde das Verfahren von dem Pforzheimer Goldschmied Christian Ferdinand Oechsle um 1830. Das einfachste Meßverfahren ist zweifellos das der Baumé-Skala. Sie gibt den potentiellen Alkoholgehalt eines Mosts an, wenn der gesamte in ihm gelöste Zucker vergoren würde. Ein Most mit 12 Baumé ergäbe folglich einen Wein mit 12 Vol.%.
Mostgewicht wenig aussagekräftig
Das Mostgewicht ist zweifellos ein wichtiger Faktor für die Festlegung des Lesezeitpunkts. Die Einteilung nach Qualitäts- und Prädikatsweinen, wie sie im deutschen und österreichischen Weingesetz vorgenommen wird, basiert deshalb auf dem Mostgewicht. Auch für die Klassifizierung der Prädikatsweine ist das Mostgewicht ausschlaggebend. Eine Riesling Spätlese von der Mosel muß mindestens 76, eine Auslese 85 Grad Oechsle aufweisen. Nach diesem Maßstab wäre ein einfacher französischer Landwein schon eine Auslese, ein italienischer Amarone aus Valpolicella gar eine Beerenauslese. In den mediterranen Anbaugebieten und in anderen warmen Weinbauzonen ist das Mostgewicht folglich wenig aussagekräftig. Dort zählen Säure, pH-Wert oder physiologische Reife (siehe unten). Aber auch in Deutschland und Österreich setzt sich zunehmend die Einsicht durch, daß das Mostgewicht nur einer von mehreren Faktoren ist, die über die Qualität eines Weins Auskunft geben. Die Zusammensetzung der Säuren und der Extrakt sind mindestens ebenso wichtig.
Zucker und Säure
Für den genauen Lesetermin gibt es kein Schema. Die meisten Winzer stellen Analysen des Beerensafts an. Vom Zeitpunkt der Färbung der Trauben im August steigt nämlich die Zuckerkonzentration kontinuierlich an, während die Säure gleichzeitig sinkt. In kühlen Anbaugebieten orientieren sich die Winzer vor allem an der Zuckerkonzentration. In den warmen und heißen Regionen wird, insbesondere bei Weißweinen, darauf geachtet, daß die Gesamtsäure nicht zu tief absinkt. Sie sollte zwischen sieben und zehn Gramm pro Liter liegen – Spezialweine ausgenommen. Manche Winzer orientieren sich statt an der Gesamtsäure am pH-Wert des Beerensafts. Er sollte zwischen 2,7 und 3,7 liegen.
Definition der Reife
Was Reife ist, bestimmt der Winzer. In Deutschland spricht man zum Beispiel von „Vollreife“ und meint, daß nachts mehr Zucker abgebaut, als den Beeren tagsüber durch Assimilate zugeführt wird. Die Zuckerbilanz ist dann negativ. Vollreife Trauben können nur bei später Lese geerntet werden. Der größte Teil der Trauben wird deshalb vor der Vollreife eingebracht – als nurmehr „reifes“ Lesegut. Als „reif“ gilt die Traube, wenn die Zuckerbilanz geringere Zuwächse aufweist, als die Säure abfällt. Winzer in anderen Ländern haben ihre eigene Ratio für das Zucker- Säure-Verhältnis. In Massenanbaugebieten entspricht das Reifekriterium oft dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestalkoholgehalt des späteren Weins beziehungsweise der Mindestsäuremenge.
Physiologische Reife
Der Begriff „physiologische Reife“ kommt aus Amerika und steht im Gegensatz zu den traditionellen, in Europa üblichen Reifekriterien wie der Messung der Zuckerkonzentration oder des Säuregehalts. Dabei spielt der Grad der Färbung der Beerenhaut (sowohl bei Weiß- wie bei Rotweinen), die Elastizität des Fruchtfleisches, der Reifezustand der Kerne und nicht zuletzt der Geschmack der Beere eine große Rolle. Inzwischen sprechen auch europäische Winzer gern von physiologischer Reife – nicht zuletzt deshalb, weil erfahrene Winzer und Önologen sich vom Reifezustand der Trauben immer schon durch Probieren überzeugt haben. Wie süß sie schmecken und wie dick die Schale ist, gehört zu den unverzichtbaren Prüfungen, die jeder Château- Besitzer in Bordeaux und jeder Domänen-Besitzer im Burgund in der Reifezeit fast täglich vornimmt.