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Salutogenese im Rebkindergarten

Mein Besuch bei der Rebschule Christoph Hebinger in Eguisheim

Eines der wichtigsten biodynamischen Prinzipien ist die sogenannte Salutogenese. Dabei geht es darum zu überlegen, wie Gesundheit entsteht. Ein bedeutender Perspektivwechsel, zum in der konventionellen Landwirtschaft gängigen Prinzip der Pathogenese, die sich damit beschäftigt, wie Krankheiten entstehen und bekämpft werden können. Wer sich also mit der biodynamischen Salutogenesebrille dem Weinbau nähert, muss sich über empfindliche Pflanzen wundern. Allein der Kampf der Biowinzer in dem feuchten Jahr 2021 spricht hier Bände. Aber auch der Anfang des Jahres veröffentlichte Pestizidatlas der Grünen Partei nahen Heinrich-Böll-Stiftung zeigt, dass für ökonomisch erfolgreichen Weinbau intensiv gespritzt werden muss. Der Behandlungsindex vergleicht dabei verschiedene Kulturen und kommt zu dem Schluss, dass nur Äpfel intensiveren Pflanzenschutz bedürfen.

©Pestizidatlas 2022 Eimermacher/Puchalla, CC-BY-4.0

Die Anfälligkeit der Reben hat offenbar viele Gründe. Einige davon schreiben Winzer dem Pflanzmaterial zu. So müssen Reben vegetativ vermehrt werden, weil sie genetisch nicht stabil sind. Würde man eine Pflanze aus einem Riesling-Samen ziehen, hätte diese ganz andere Eigenschaften. Daher werden neue Reben seit Jahrhunderten aus Zweigen gezogen und müssen mit einer alten Genetik den Herausforderungen von heute trotzen. Überspitzt gesagt ist das so, als würde ein Neandertaler auf das Oktoberfest gehen und sein Immunsystem müsste sich nicht nur mit Corona-Viren beschäftigen, sondern auch mit den Pathogenen die an schlecht gewaschenen Bierkrügen kleben.

Betrachtet man zudem die Praktiken in den gängigen Rebschulen, kann man sich über empfindliche Pflanzen nicht wundern. Dort sieht man mitunter mit Kunstdünger aufgeblasene und am Boden kriechende amerikanische Mutterreben, die ordentlich Herbizide abbekommen, was sicherlich nicht auf die Widerstandsfähigkeit einzahlt. Hinzu kommt der maschinell ausgeführte Omega-Schnitt, bei dem 4 – 5 mal schneller Reben gepfropft werden können,  weil im Gegensatz zu besseren Schnitten, die Pflanzenteile nicht von Hand zusammengesetzt werden müssen. Jungreben die zum Auspflanzen nicht zum optimalen Punkt der Holzreife geerntet werden, sondern dann, wenn Arbeitskräfte nach der Traubenlese noch etwas zu tun brauchen, und so weiter.

Vor dem Hintergrund habe ich Anfang Oktober die Rebschule von Christoph Hebinger im elsässischen Eguisheim besucht. Er ist in der biodynamischen Szene bekannt für die Erzeugung von Biopflanzmaterial, unter anderem für Topwinzer aus dem Burgund. Er geht mit seiner Kritik noch weiter. Er sieht vor allem das Auspflanzen von gleichförmigen Klonen kritisch. „Pflanzen mutieren kontinuierlich“, führt er aus. „Wenn man einen Weinberg einheitlich mit zertifizierten, einheitlichen Klonen anlegt, dreht man die standortspezifische Evolution zurück“, ist er sich sicher. Seine Rebschule hat sich daher mit der sogenannten „selection massale“ einen Namen gemacht. Er schult Winzerinnen und Winzer darauf, die widerstandsfähigsten Reben in den eigenen Weinbergen zu selektieren und vermehrt diese dann für sie weiter. „Ich gebe den Winzern vor allem Selbstvertrauen, die richtigen Entscheidungen zu treffen,“ erklärt er weiter. So macht er das Erfahrungswissen der Praktiker konkret für die Rebgesundheit und Qualität nutzbar. „Wir verkosten viel mit den Winzern und sind der Überzeugung, dass die Weine komplexer schmecken, auch wenn die Reben erst ein paar Jahre alt sind“, ist er überzeugt. Das der französische Staat für das Anpflanzen gleichförmiger Klone eine Subvention von bis zu 15.000 Euro pro ha locker macht, für Winzer die sich für die „selection massale“ entscheiden allerdings nichts, ist nicht nur für ihn ein Skandal.

Bild: Jungreben im FeldMit einer Produktion von 2 Millionen Reben im Jahr, gehört die Rebschule Hebinger zu den mittelgroßen. Die größten Rebschulen in Frankreich machen bis zu 10 x mehr Reben.

Kontroverse Diskussionen dürfte auch sein Hinweis hervorrufen, dass er die sterile Vermehrung von Reben für einen Fehler hält. Seit Jahrzehnten sind Rebschulen gesetzlich verpflichtet Pflanzmaterial frei von Viren, Pilzen und Bakterien anzubieten. Dabei versteht man noch sehr wenig über die Funktionsweisen etwa von Viren. So legt die Mikrobiomforschung nahe, dass diese nicht einzeln betrachtet, sondern nur im Verbund beurteilt werden können. Ein virusinfizierter Rebstock auf einem gesunden Boden kann demnach ganz anders reagieren als einer der Höchstleistungen auf einem verarmten Boden erbringen soll. Ein Beispiel ist das Blattrollvirus, das für bis zu 30% weniger Ertrag und spätere Reife sorgt und in Südafrika versucht wurde auszurotten. „Für Qualitätsweinbau in Zeiten vom Klimawandel könnte das Blattrollvirus interessant sein“, erklärt Hebinger dazu. „Wir merken immer mehr, dass Viren etwas bringen können“, erzählt er weiter.

Während Christoph Hebinger das so erzählt, wird mir einmal mehr klar, warum das biodynamische Prinzip „im Lebendigen forschen“, wichtig ist. Man muss etwa im Weinbau die Reben in ihrem natürlichen Umfeld betrachten, um zu aussagefähigen Ergebnissen zu kommen. Eine aufmerksame Winzerin oder Winzer weiß wo die Pflanzen stehen, die eine natürliche Resistenz haben. Sie können auf ganz natürliche Art und Weise widerstandsfähige Pflanzen finden. Dazu braucht es Beobachtungsgabe, Erfahrung und wieder Selbstbewusstsein, dass man als Praktiker die richtigen Entscheidungen treffen kann. Einer wie Christoph Hebinger macht dazu jedes Jahr zahlreiche Schulungen. „Dabei geht es vor allem darum, dass die Praktiker wieder Vertrauen haben, um selber zu selektionieren“, erklärt er dazu. „10.000 Jahre hat der Winzer selber selektioniert und heute sagt man, mach‘ das bloß nicht, das ist viel zu gefährlich. Das ist doch verrückt.“

Mittlerweile gibt es am Forschungsinstitut in Colmar Untersuchungen, ob bestimmte Viren gezielt für die Rebgesundheit genutzt werden können. Man versucht gewisse Viren einzuimpfen, um gegen andere zu schützen. Dabei wird wieder reduktionistisch, ein Phänomen getrennt von der Lebenswirklichkeit betrachtet und beurteilt. Zudem wird die Erfahrung und das Wissen der richtigen Praktiker nicht ausreichend genutzt. Dabei schält sich immer mehr eine Gewissheit heraus, dass es einen großen Unterschied zwischen den Erfordernissen industrieller Getränkeweine und dem handwerklich erzeugten Kulturgut Wein gibt. Die Differenzierung beginnt bereits in den Rebschulen und es bräuchte im gesamten Produktionsprozess unterschiedliche Ansätze in Forschung, Lehre und Gesetzgebung, um den immer weiter auseinander klaffenden Wirklichkeiten gerecht zu werden.  

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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