Ich traf Derenoncourt letzten Sonntag in München auf der Praterinsel. Das Wetter war sommerlich warm. Die Isar trug nach den Regenfällen der Vorwoche noch viel Wasser, strömte aber lautlos durch die bayerische Landeshauptstadt. Derenoncourt lehnte an der alten Kastanie im Innenhof der ehemaligen Likörfabrik, die auf der Praterinsel steht, und rauchte eine Zigarette. „Durchschnaufen“ nennt man in Bayern so eine kurze Pause.
Drinnen im Saal drängten sich 200 Leute, um Côte Rôtie von René Rostaing, Masseto von Ornellaia, Remelluri von Telmo Rodriguez, Trévallon von Eloi Durbach, Bricco della Bigotta von Braida und Hermitage von Jean-Louis Chave zu probieren. Oder Pontet Canet, Comte de Vogue, Château Montelena – alles Rotweine, die zu den besten und teuersten der Welt gehören. Die Firma Alpina aus dem bayerischen Buchloe bot ihren Kunden die „besten Weine in Jahrgangsvertikalen“ zur Verkostung an.
Große Rotweine haben 13,5 Vol.% und mehr
Keiner der ausgeschenkten Weine wies weniger als 13 Vol.% Alkohol auf. Die meisten tendierten in Richtung 14 Vol.% und mehr. Trotzdem genossen die Gäste, was sie im Glas hatten. Auch die Weine der Domaine de l’A, deren Besitzer Derenoncourt und seine Frau sind. Ihretwegen waren sie nach München gekommen, obwohl Deutschland normalerweise nicht auf ihrem Reiseplan steht. Die Weine aus den Côtes de Castillon, einer Satelliten-Appellation von St. Emilion, gehören in die gleiche Schwere-Kategorie. „Der Alkohol kann hoch sein, aber er muss eingebettet sein“, sagt Derenoncourt. „Extrakt und Tannin müssen in gleichem Maße vorhanden sein. Wichtig ist nur die Balance des Weins.“
Bekannt ist der 49-jährige Franzose weniger als Weingutsbesitzer denn als önologischer Berater. Rund hundert Weingütern in aller Welt gehören zu seinen Kunden. In Bordeaux hören Châteaux wie Canon-la-Gaffelière, Talbot, Rol Valentin, Petit Village, Prieuré Lichine auf seinen Rat. Aber auch in Spanien (Alonso Del Yerro), Italien (Fattoria La Massa, Argentiera), Österreich (Esterhazy), Kalifornien (Rubicon Estate), Türkei, Syrien und Indien ist Derenoncourt tätig. In Deutschland hat der Sohn eines Stahlarbeiters aus der Normandie noch nie ein Beratungsmandat gehabt, was wohl daran liegt, dass er weder ein Weißwein- noch ein Burgunder-Experte ist. Seine Spezialität sind tanninbetonte Rotweine, vorzugsweise aus Cabernet Sauvignon, Merlot & Co.
Nicht die Klimaveränderung, sondern Parker ist Schuld
Wer, wenn nicht er, kann die Frage beantworten, ob Rotweine, zumindest die guten, immer 13,5 oder 14 Vol.% Alkohol haben müssen? Und wenn ja, ist die Klimaveränderung daran schuld, dass sie immer schwerer werden? Derenoncourt zögert nicht lange mit der Antwort: „Nicht die Klimaveränderung ist Schuld, sondern Parker.“
Im ersten Moment habe ich, zugegeben, gestutzt. Der amerikanische Weinkritiker? Was hat er mit hohen Alkoholgehalten zu tun? Um zu begreifen, was Derenoncourt meint, muss man um eine Gesetzmäßigkeit des modernen Weinbaus wissen: Weine von Reben mit niedrigen Traubenerträgen ergeben höhere Qualitäten. Deshalb sind in den letzten zwei, drei Jahrzehnten überall, wo Qualität das Ziel ist, die Erträge in den Weinbergen heruntergefahren worden. Parker war nicht der erste, der das erkannte. Aber er war der erste, der diese Weine hoch benotete, und zwar auf eine Art und Weise, die ein breites, auch weinfremdes Publikum verstand.
Allerdings ergeben weniger Trauben pro Stock zwangsläufig auch höhere Zuckerwerte. Und das nicht nur in Bordeaux. In allen Anbaugebieten der Welt sind daher die Alkoholwerte gestiegen, in Spanien, Italien und den Ländern der Neuen Welt ebenso wie in Deutschland. Erhöhter Alkohol ist der Preis für bessere Qualitäten. Man muss Parker nicht mögen, um zuzugeben, dass diese Konsequenz unvermeidlich ist.
Bordeauxweine wiesen früher nur 12,5 Vol.% Alkohol auf
Rückblick: Bis 1970 hatte ein Cru classé aus Bordeaux durchschnittlich 12,5 Vol.% Alkohol, selten mehr. Wer ältere Flaschen im Keller hat, kann das nachprüfen. Heute gibt es keinen Cru classé unter 13 Vol.%. Meistens gehen die Alkoholwerte in Richtung 13,5 Vol.%. Eine gnädige EU-Etikettenvorschrift, die nur volle und halbe Alkoholwerte kennt und dabei auch noch eine Toleranz von 0,5 Vol.% einräumt, verhindert, dass die volle Wahrheit sichtbar auf dem Etikett erscheint.
Am Rechten Ufer liegen die Alkoholwerte sogar regelmäßig um 14 Vol.%. Nicht nur der rigorosere winterliche Rebschnitt führt dazu, dass die wenigen Trauben, die gebildet werden, mehr Zucker entwickeln als früher. Auch die in nahezu allen Qualitätswein-Anbaugebieten der Welt praktizierte „Grünlese“ und die immer häufiger praktizierte „Pinklese“ nach der véraison lassen die Erträge schrumpfen. Bei nur 45 Hektolitern pro Hektar, gar bei 35 können keine Weine mit 12,5 Vol.% entstehen. Dazu ist der Zuckergehalt in den Beeren einfach zu hoch.
Châteaux ließen früher mehr Trauben hängen
„Die Erträge in Bordeaux waren früher zwar nicht hoch, aber höher als heute“, sagt Derenoncourt im Rückblick. „Die Châteaux ließen damals einfach mehr Trauben an den Rebstöcken hängen.“ Folge: Ihre Weine waren weniger konzentriert, weniger dicht, in kleinen Jahren oft sogar mager. Nicht selten schmeckten sie „grasig“, wiesen also „grünes“, unreifes Tannin auf.
Zu fordern, wieder mehr Trauben pro Stock zu produzieren, um niedrigere Alkoholwerte zu bekommen, wäre vermutlich das Todesurteil für hochklassige Weine: „Das kann man mit Landweinen machen, aber nicht mit einem guten Bordeaux“, sagt Derenoncourt.
Früher Lesen? Keine Lösung!
Und die Lese einfach vorziehen, um geringere Alkoholgehalte zu erzwingen? Derenoncourt: „Das würde bedeuten: höhere Säure und gegebenenfalls grünes Tannin. Solche Weine lehnen die Weintrinker heute ab.“ Und: „Vielleicht ist das ein Effekt von Parker, dass er die Weintrinker erzogen hat, auf die vollständige physiologische Reife der Weine zu achten, vor allem auf reifes, weiches Tannin. Egal wie niedrig der Alkoholgehalt ist – unreife Weine werden heute Niemandem verziehen. Siehe die Reaktionen des Marktes auf den Jahrgang 2011 in Bordeaux.“
Kann man also nichts tun, um die Weine wieder auf alkoholisches Normalmaß zu bringen? Derenoncourt zuckt mit den Schultern. „Wer die Alkoholwerte senken möchte, aber die Qualität erhalten will, muss erklären wie.“
[…] >>> Stéphane Derenoncourt über Alkohol im Bordeaux […]
Sehr geehrter Herr Derenoncourt,
ich bin mal wieder verwundert, wie wenig Sachkenntnis in diesem Artikel steckt. Klar, wenn ich an Bordeaux und schwere Weine denke, ist das ja auch naheliegend. Nur ist Bordeaux der Nabel der Welt? Zum Glück nicht! Denn es gibt Regionen, wo der nicht so hohe Alkoholgehalt vorbildlich praktiziert wird. Warum? Weil es um Elgezanz und Finesse geht und das auch mit wenig Alkohol. Wo? Z..Bsp. in Burgund. Wer behauptet, dass dies nicht möglich ist, der hat schlicht weg keine Ahnung! Es geht ganz klar. Siehe andere Anbaugebiete ausserhlab Bordeaux. Prof. Schultz von der Uni Geisenheim hat in seinem Vortrag über weinbauliche Massnahmen gesprochen unter anderem zum Thema Reifeverzögerung. Erreichbar durch eine Veränderung des Blatt-Frucht-Verhältnisses. Weniger Blattmasse durch z.Bsp. kurze Laubwand oder Entblätterung (nicht in der Traubenzone) verzögert die Reife. Die Erträge sind vergleichbar. Aber weiniger Zucker bei trotzdem ausreichendem Stickstoff im Most. Die Frage was ist das Ziel? Qualität oder möglichst gleichbleibend hohe Mostgehalte? Aber das hatten wir ja schon in den 70er Jahren. Mich wundert es kaum, dass sich immer mehr an Qualität interessieren anstatt hohen Alkoholgehalten im Wein. Mit vinophilen Grüssen
[…] Zuviel Alkohol? Stéphane Derenoncourt über „schwere“ Rotweine Stéphane Derenoncourt: Wie es zu den hohen Alkoholgehalten kam […]