Die erste Flasche, die Jochen Dreissigacker an jenem warmen Sommerabend aufmachte, war der Gutsriesling. Schön schlank und wenig Alkohol – etwas für Leichtmatrosen. Bei dem zweiten Wein war ich unsicher. So kräftig wirkte er, dass ich dachte, der Winzer macht gleich mit seinen Spitzenweinen weiter. Denn die ganze Sache spielt in München, und die bayerische Landesmetropole gilt als mondän. Leute, die München nur von RTL her kennen, stellen sich gerne vor, dass die Münchener Klopapier mit Goldschnitt kaufen und sich die Zähne mit Champagner putzen.
Ortswein besser als viele Lagen-Rieslinge
Bechtheimer RieslingDoch der 33-Jährige aus Rheinhessen, der nach dem Wunsch seiner Eltern Steuerberater werden sollte und auch die entsprechende Lehre begann, hält sich brav an die Regeln. Er lässt, bevor er die Spitzenweine aufmacht, erst einmal seinen Ortsriesling sprechen. So nennen die deutschen Top-Winzer heute die mittlere Qualitätslinie. Da der Ort, aus dem Dreissigacker kommt, Bechtheim heißt, heißt dieser Wein einfach Bechtheimer Riesling.
Doch was sich hinter dieser schlichten Bezeichnung verbirgt, ist besser als viele Weine mit klangvollem Lagennamen: ein extraktreicher, vor Frucht fast berstender Wein, der nichts, aber gar nichts von jener Spießigkeit hat, an der man rheinhessische Weine früher sicher identifizieren konnte. Die Säure ist reif und weinig, der Geschmack mineralisch, der Duft erinnert an Pfirsich, Erdkrume, kandierte Zitronenschale. Allerdings kostet er mit rund 15 Euro auch dreimal soviel, wie die flüssige Hausmannskost einst kostete.
Nicht alle verfügen über so gute Lagen
Dreissigacker will „keine Weine, wie alle sie machen“. Sagt er. Alle könnten sie auch gar nicht machen, weil sie nicht die Lagen dafür besitzen. Nämlich nicht nur Löß und Lehm, sondern auch altes, verwittertes Kalkgestein aus den Zeiten, da große Teile Rheinhessens noch Urmeer waren.
Tohru NakamuraDie besondere Qualität von Dreissigackers Ortsriesling hat aber auch mit seiner Kellerarbeitet zu tun: zweitägige Maischestandzeit vor der Vergärung, keine Reinzuchthefen, Teilausbau im großen Holzfass, langes Feinhefelager. So aufwendig arbeiten tatsächlich nicht alle Winzer. Resultat: ein Wein für hohe Ansprüche, auch wenn er in der Betriebshierarchie nur in der Mitte steht. Wir tranken ihn zu einer Dorade mit Austern, Steinpilzen und Kombualgen, ein Gericht, das sich Tohru Nakamura hat einfallen lassen. Er ist der Küchernchef in Geisels Werneckhof, Münchens jüngstem 1-Sterne-Restaurant.
„Zurück in die Zukunft“
Rheinhessen ist heute ein Traumland für trockene Weine. Und Dreissigacker, dem die Mitgliedschaft in der Jungwinzer-Vereinigung „Message in the Bottle“ wichtiger ist als die im VDP, ist einer, der eine klare Richtung verfolgt, und zwar ziemlich kompromisslos. Will sagen: ohne Rücksicht auf den Kommerz. „Zurück in die Zukunft“ hat er mal über seine Philosophie gesagt.
Über dem Ortsriesling thronen bei ihm Rieslinge aus sechs verschiedenen Lagen: Aulerde, Kirchspiel, Morstein aus der benachbarten Gemeinde Westhofen, Hasensprung, Geyersberg und Rosengarten aus Bechthofen. Dreissigacker hatte den 2012er Geyersberg dabei. „Meine Lieblingslage“, erklärt er. Dieser Wein ist noch stoffiger, noch extraktreicher als der Ortsriesling, in der Frucht eher dezent, dafür mit viel mineralischen und Hefearomen. Nichts für leicht & lecker-Trinker. Nichts für Frucht-Fetischisten. Schon gar nichts für „knackige“-Säure-Fans. Säure hat der Geyersberg-Riesling zwar reichlich. Aber sie ist in weichen Schmelz eingebettet. Ein „salziger“ Wein, konzipiert, um in drei oder fünf oder zehn Jahren getrunken zu werden (ca. 32 Euro).
Wer ist der Star? Der Wein? Oder das Gericht?
Natürlich schmeckt so ein Lagen-Riesling auch jung schon gut, obwohl er erst wenig von seiner Aromenfülle zeigt. Nakamura hat dazu im tiefen Teller Rochen und Schnecken in Pinienkernnage auftragen lassen (unter Nage versteht man in der feinen Küche einen raffiniert verfeinerten Sud, in dem das jeweilige Gericht „schwimmt“). Ob das Gericht oder der Wein der Star war, wurde gefragt. Ich war zu faul, darüber nachzudenken. Wollte nicht Gault Millau spielen. Und Patricia Bröhm, die neben mir saß, auch nicht, obwohl sie den GM-Restaurantführer verantwortet.
Etikett EinzigackerDas nächste Gericht von Tohru Nakamra hatte es mir allerdings angetan. Eine Komposition aus Königskrabbe, Pulpo, Sepia, Garnelen, Herzmuscheln, Tomaten und Fenchelschaum. Fideuá genannt (von der Food- and Wine-Bloggering Annette Sandner toll fotografiert). Wer das gegessen hat, riskiert zum Snob zu werden und niemals mehr Weißwurst oder Leberkäs essen zu wollen. Erst recht nicht, wenn dazu der Weißburgunder „Einzigacker“ im Glas ist. Ein kühnes Wortspiel, auf das sich Dreissigacker eingelassen hat.
Aber dieser Wein ist nicht nur einzig im Sortiment des Winzers. Er dürfte auch zu den ganz großen Weißburgundern Deutschlands gehören, also in der Liga der Wehrheims, Hegers, Seegers, Rebholz’ oder Kranz’ spielen. Leider gibt es nur wenige Flaschen vom Einzigacker. In 2012 wurden nur knapp 1.000 Flaschen von ihm gefüllt. Sie teilen sich ein paar Kenner untereinander auf, die keine Kosten (ca. 33 Euro) scheuen, wenn es um ihr leibliches Wohl geht. Diese Spezies kommt in München häufiger vor als anderswo.
Werneckhof: kein Lugana und kein Pinot Grigio
Danach tranken wir noch Dreissigackers Spätburgunder Rotwein Wunderwerk und eine Beerenauslese vom Rieslaner. Aber das Feuerwerk war zu diesem Zeitpunkt schon abgebrannt. Erschmeckt haben wir die besondere Qualität der Dreissigacker-Weine wohl. Und sie genossen. Aber verstanden? Es hat sicher mit den sensationell guten Lagen zu tun, über die Dreissigacker verfügt. Aber auch viel mit der Art, wie er im Weinberg arbeitet: Düngeverzicht, Vitalisierung der Reben, starke Mengenreduktion – überhaupt mit der biologisch-organischen Wirtschaftsweise. Mehr traue ich mich derzeit nicht zu sagen.
Noch ein Wort zum Werneckhof. Das Lokal liegt in einer stillen Anliegerstraße in Schwabing. Von außen sieht es aus wie ein herausgeputzter, bürgerlicher Gasthof. Innen zeigt sich, dass er das auch ist: altmodisch mit Bleiglasfenstern, die von schweren Schals und Schabracken eingefasst sind, dunkle Türzargen, altes Gestühl mit Jugendstildekor. Dass dort ein junger Halbjapaner am Herd steht, der eine puristische Küche mit manchmal asiatischen, manchmal arabischen Einschlägen praktiziert, ist dem Haus weder von innen noch von außen anzusehen. Eine Überraschung also. Außerdem versteht man hier etwas vom Wein. Daran ist allerdings Ireneo Tucci Schuld, der Restaurantdirektor. Ein Italiener mit feiner Zunge, der mit Tohru Nakamura ein perfektes Gespann bildet. Lugana und Pinot Grigio kommen – ganz unmünchnerisch – hier nicht auf den Tisch.