Der November ist für mich immer der arbeitsreichste Monat des Jahres. Vorgezogene Redaktionsschlüsse bei den Zeitschriften, für sie ich schreibe, verlangen Nachtschichten. Projekte für das neue Jahr werden formuliert, zu Papier gebracht und beschlossen. Der Steuerberater schickt einen vorläufigen Jahresabschluss, die Weine für die großen Januar-Degustationen müssen eingekauft werden. Und dann sind da noch die vielen vorweihnachtlichen Weinproben, die zwar ein Vergnügen sind, aber das Zeitfenster für die lästigen Pflichten weiter verengen. Diesmal waren es eine spannende Finalprobe für den Riesling Cup des FEINSCHMECKER in Hamburg, Meiningers exklusives Weinevent Finest 100 in Neustadt, Champagnerverkostungen von Laurent-Perrier und Nicolas Feuillatte, um nur einige Höhepunkte zu nennen.
Weine der 18 Güter der „Grandi Marchi“
Das spannendste Weindegustation aber fand in Rom statt. Der italienische Weinkritiker Daniele Cernilli führte durch eine Probe von Spitzenweinen von 18 italienischen Weingütern, die sich zur Vereinigung „Grandi Marchi“ zusammengeschlossen haben und sich einmal im Jahr in der italienischen Hauptstadt zu ihrer Jahresversammlung treffen. Das Mitgliederspektrum reicht von Antinori bis Tasca d’Almerita – also fast das gesamte Who is Who des italienischen Weins. Das Tasting fand im Palazzo Rospigliosi auf dem Quirinalshügel gleich neben dem Präsidentenpalast statt, geladen waren römische Gastronomen und Hauptstadtjournalisten – und ich.
Prosecco und Franciacorta
Cernilli ist der erfahrenste und akribischste unter den Weinkritikern Italiens (seinen jährlich erscheinenden „Ultimativen Weinführer Italiens“ gibt es bei Amazon für 25 Euro zu kaufen). Zu Beginn der Verkostung ließ es „Doctor Wine“, wie er sich nennt, erst einmal schäumen. Die historische Kellerei Carpenè-Malvolti präsentierte ihren besten Prosecco „1868 Rive di San Pietro di Barbozza“ (offizielle Bezeichnung: Conegliano Valdobbiadene Prosecco Superiore DOCG). Der 2020er ist ein leichter, aber gehaltvoller Wein mit feinem Birnen- und Feuersteinaroma, sehr präzise gearbeitet, mit weiniger Säure, extrem frisch und sehr delikat – einer der besten Prosecco, die ich kenne. Mit den Supermarkt-Proseccos hat dieser Spumante nichts gemein (ca. 17,50 Euro). Carpenè-Malvolti gilt als Erfinder des modernen Prosecco, der die Charmat-Methode in den 1930er Jahren im Anbaugebiet eingeführt und später perfektioniert hat. Die Steillagen in der Ursprungszone, in denen nur händisch gearbeitet werden kann, dürfen sich laut Produktionsstatut „Rive“ nennen – daher die lange Bezeichnung. Das juste Gegenteil des Prosecco ist die 2011er Franciacorta Riserva „Annamaria Clementi“ von Ca’del Bosco: ein wahrhaft majestätischer Schaumwein, der trotz des warmen Jahrgangs überraschend geschmeidig ausfällt und (nach mehr als 100 Monaten auf der Hefe) eine tiefe Cremigkeit aufweist (ca. 95 Euro). Er ist der Topwein der berühmten Kellerei. In der Spitze gehören die Franciacorta meiner Meinung nach zu den finessereichsten Schaumweinen der Welt.
Weißweine haben oft das Image gepflegter Alltagsweine – mit Ausnahmen
Das Image weißer italienischer Stillweine ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchwachsen. Meistens entspricht es dem gepflegter Alltagsweine. Und der Verdicchio gehört nicht unbedingt zu den Ausnahmen. Aber ich glaube, dass es nur wenige Weißweine in Italien gibt, die die mediterrane Stilistik so gut umsetzen wie dieser Weiße aus der kühlen Region Marken. Der 2019er Verdicchio dei Castelli di Jesi „Vecchie Vigne“ von Umani Ronchi (ca. 14,50 Euro) ist ein Beweis für diese Behauptung, wobei hinzugefügt werden muss, dass die besten Weine dieses Anbaugebiets immer mit hohem Aufwand erzeugt (in diesem Fall von über 50jährigen Reben) und sehr ambitioniert vinifiziert werden
Ebenfalls zu den Ausnahmen gehört der Chardonnay Löwengang von Alois Lageder aus Südtirol, dessen 2018er Version durch Klarheit, Sauberkeit, Frische überzeugt (ca. 45 Euro). Lageder habe, erzählte Cernilli, in den letzten Jahren seine Stilistik geändert: der biologische Säureabbau wird nur noch teilweise durchgeführt, der Barrique-Ausbau zurückgenommen, dafür mehr großes Holz eingesetzt. Gleichwohl ist der Löwengang immer noch ein Wein mit breiten Schultern, zarten Pomelo- und Kräuteraromen und vielen Sponti-Hefenoten. Ich habe kürzlich eine Flasche 1984er in meinem Keller gefunden. Der Wein ist immer noch mit großem Genuss trinkbar. Aber so lange warten sollte man eigentlich nicht.
Viel Mainstream, aber auch viel gegen den Mainstream Gebürstetes
Italiens Stärke sind die Rotweine. Wenn der gerade erschienene Sopexa Wine Trade Monitor 2021 berichtet, dass italienische Weine weltweit, besonders aber in Asien auf dem Vormarsch sind, dann dürfte diese Entwicklung in erster Linie den Roten geschuldet sein. Auch wenn nicht alles „groß“ im Weltmaßstab ist, was in diese Farbkategorie fällt, so ist Italien doch ein Füllhorn von eigenständigen, originellen, manchmal gegen den Mainstream gebürsteten, manchmal aber auch reichlich mainstreamigen Weinen, für die die Italiener das schöne Worte ruffiano haben: anbiedernd. Unter den 18 Weinen, die wir in Rom verkosteten, war nur einer, der meiner Meinung nach in diese Kategorie gehört: der 2017er Il Pareto aus der Tenuta Nozzole von Ambrogio und Giovanni Folonari. Dieser reinsortige Cabernet Sauvignon, gewachsen im Chianti Classico, ließ mich ratlos zurück: handwerklich ein exzellenter Wein, angestrengt um Eigenständigkeit bemüht, ohne am Ende jenen Esprit überkommen zu lassen, der Cabernet Sauvignon-Weine anderswo auf der Welt auszeichnet (ca. 55 Euro).
Vom Lagen-Amarone bis zum Nobel-Cannonau
Der größte Teil der Weine, die Cernilli präsentierte, war inspirierender, egal ob man persönlich auf sie fliegt oder nicht: Michele Chiarlos 2018er Barbera-Superselektion „Cipressi“ aus dem Piemont (Cernilli: „zurückhaltend und elegant, leicht rauchig“, ca. 20 Euro), Agriolas 2017er „Turriga“ aus Sardinien („wie ein Chateauneuf-du-Pape ohne Brettanomyces“, ca. 65 Euro), Riveras 2015er „Puer Apuliae“ aus der Sorte Troia, die im Anbaugebiet von Castel del Monte in Apulien zu Hause ist („Gegenteil eines Primitivo“, ca. 24 Euro), sodann die 2013er Brunello di Montalcino Riserva „Poggio al Vento“ von Col d’Orcia („elegante Version eines historischen Klassikers“, ca. 93 Euro), der 2015er Amarone Classico Riserva Costasera von Masi („hoher Alkoholgehalt, wird aber durch Extrakt und Tannin aufgefangen“, ca. 45 Euro) sowie der 2017er Barolo von Pio Cesare („warmes Jahr mit hartem Tannin, in 20 Jahren perfekt“, ca. 60 Euro), der letzten noch in der Altstadt von Alba befindlichen Kellerei, die nach dem Corona-Tod des Patrons von dessen 23jähriger Tochter Federica Boffa Pio weitergeführt wird.
Zwei Sangiovese-Weine, die begeistern
Richtig begeistert haben mich von den 18 Weinen aber letztlich nur fünf. Ich fange mal mit Antinoris 2018er Chianti Classico „Gran Selezione“ von der Badia a Passignano an. Dieser reinsortige Sangiovese versucht nicht, internationale Weine an Fülle oder Struktur zu übertreffen, sondern „das Maximum an Eleganz bereit zu stellen, das die Toskana bieten kann“, wie Cernilli es formulierte (ca. 38 Euro). Diese „Gran Selezione“ ist besser als Antinoris dreimal so teurer Icon-Wein Tiganello. Der zweite Wein, der mich faszinierte, war Lungarottis 2016er Rubesco Riserva „Vigna Monticchio“ – eigentlich keine Überraschung, gehört dieser Wein doch seit Jahrzehnten zur ersten Rotweingarnitur Italiens. Doch weil er aus dem stillen Umbrien kommt und ein Solitär ist, fehlt es ihm an Bekanntheit. Wer das Glück hat, noch die 1968er oder 1969er Jahrgänge im Keller zu haben, wird feststellen, dass sie frischer sind als mancher berühmte Bordeauxwein dieser Altersklasse.
Damals wurde die Riserva übrigens noch mit zehn Prozent Canaiolo verschnitten, die als der „Merlot Umbriens“ galt, wie Chiara Lungarotti sagte. Durch eine verbesserte Klonenselektion der Sangiovese braucht es den „Merlot“ heute nicht mehr. Seit 2008 wird der Wein nur noch aus Sangiovese gekeltert. Was mir an ihm gefällt: Er geht nicht in die Breite. Er ist vertikal ausgerichtet und trotz kräftiger Tanninstruktur vollkommen transparent. Das Aromenspektrum reicht von Preisselbeeren und Himbeerkonfitüre über Salzlakritz zu Nelken und Wacholderwürze (ca. 36 Euro).
Taurasi von unveredelten Reben
Das dritte Hightlight war der 2015er Taurasi „Stilèma“ von Mastrobardino, ein Wein, der teilweise aus den Früchten uralter, unveredelter Aglianico-Rebstöcke gekeltert ist, von denen es in Kampanien noch mehrere in sorgsam gehüteten Weinbergen gibt. Im Glas ist der 2015er „Stilèma“ streng und noch ziemlich verschlossen. Aber man spürt das besondere Timbre, ähnlich wie bei alten Bordeaux aus der Präphyloxera-Zeit, hervorgerufen durch vorsichtigere Extraktion während der Maischegärung. Manche nennen es Charisma, andere Magie. Mir fehlen passendere Worte (ca. 70 Euro).
Neue Rotwein-Potenziale vom Ätna
Ein bisschen gilt das auch für den vierten Wein. Er kommt vom Ätna in Sizilien: der 2017er Etna Rosso „Contrada Sciaranuova“ aus dem Weingut der Familie Tasca d’Almerita. Cernilli erinnert der Wein „an einen Gevrey-Chambertin“ – ein von italienischen Weinjournalisten häufig angestrengter Vergleich, wenn es um den Ätna geht. Außer der hellen Farbe hat er aber nichts mit einem Burgunder zu tun. Er steckt in einem spürbar festen Tanninkorsett und weist neben der typisch meridionalen, kirschig-süßen Kopfnote leicht jodig-schmauchige Untertöne auf, wie man sie nur an den Hängen des Vulkans findet. Sie geben diesem ungewöhnlichen Wein ein ganz eigenes Geschmackskleid (ca. 85 Euro).
Sassicaia für Filigrantrinker
Ben Ryè: süßes Finale
Ganz am Ende gab es noch einen Süßwein, den 2019er Ben Ryè von Donnafugata. Dieser orangefarbene Nektar ist immer ein Erlebnis. Ich horte alle Jahrgänge, trinke ihn aber nie zum Dessert, sondern immer zu reifem Käse. Er kommt von der windumtosten Mittelmeerinsel Pantelleria, die südlicher liegt als Tunis, aber noch zu Sizilien gehört, und wird aus Alexandermuskat gewonnen, der auf Pantelleria Zibibbo heißt: ein Teil der Trauben wird frisch vergoren, der andere Teil unter freiem Himmel sonnengetrocknet. Die von Hand gezupften, rosinierten Beeren werden dann dem gärenden Most zugegeben, so dass am Ende ein Wein mit über 14 Vol.% Alkohol und gleichzeitig 200 Gramm Restzucker entsteht: vollsüß mit intensiven Aromen von Aprikosen und Blutorangen, gleichzeitig frisch mit kräftiger Muskatellersäure auf der Seite. Passito di Pantelleria heißt er offiziell. Zu sagen, er sei der beste Süßwein Italiens, ist sinnlos, weil es keinen vergleichbaren gibt (ca. 25 Euro).