Das Verhältnis des Menschen zum Wein war immer ambivalent. Einerseits wurde er als Kultgetränk gefeiert, andererseits als Droge bekämpft. Die positiven Wirkungen des Weingenusses wurden bis vor kurzem in der Öffentlichkeit ignoriert. Die Lage änderte sich schlagartig im Jahre 1991. Das »Französische Paradoxon« wurde entdeckt. Seitdem gilt, dass mäßiger Weingenuss gesünder ist als Abstinenz.
Mäßiger Weinkonsum
Am 17. November 1991 strahlte die CBS im amerikanischen Fernsehen eine neue Folge ihrer regelmäßigen Diskussionssendung »60 Minutes« aus. Das Thema: Gesunde Ernährung. Der Moderator Morley Safer hob ein Glas Rotwein in die Höhe und erklärte, möglicherweise liege der Grund für die niedrige Rate an Herzinfarkten in Frankreich im Inhalt dieses Glases. Was dann folgte, elektrisierte die Zuschauer und beschäftigte die amerikanische Nation noch jahrelang. Vor allem aber stellte es die bisherige Diskussion über Wein völlig auf den Kopf. Aus der gefährlichen Droge wurde innerhalb kurzer Zeit eine Medizin gegen die amerikanische Volkskrankheit Nummer eins: den aus einer Verfettung der Koronargefäße resultierenden Herzinfarkt. Die Diskussion erfasste auch die europäische Öffentlichkeit und rief Wissenschaftler, Wein-Lobbyisten und Gesundheitspolitiker auf den Plan. Auf einmal wurde offiziell, was die Menschen in den Weinanbaugebieten aus eigener Erfahrung schon immer wussten: Weinkonsum ist, sofern er moderat ausfällt, Bestandteil einer gesunden Lebensweise. Das gilt besonders für Rotwein.
Weniger Herzinfarkte
Mit welchen Informationen hatte die CBS-Sendung aufgewartet? Sie hatte die Ergebnisse von Untersuchungen über die »ungesunde« Lebensweise männlicher Franzosen zitiert und diese in Beziehung gesetzt zu vergleichbaren Untersuchungen aus Amerika. Danach rauchen französische Männer wesentlich mehr als ihre amerikanischen Geschlechtsgenossen. Sie treiben weniger Sport und nehmen rund dreißig Prozent mehr Fett in Form von Butter, Käse, Schinken oder Stopfleber zu sich. Darüber hinaus trinken die Franzosen bereits zum Mittagessen Rotwein. Insgesamt ist der statistische Rotweinkonsum bei den Franzosen zehnmal höher als der der Amerikaner. Doch auf 100 Franzosen entfallen 30 bis 50 Prozent weniger Herzinfarkte. Dieses »Französische Paradoxon« hat die Wissenschaftler zu dem Schluss verleitet, dass der Rotwein die Folgen der ungesunden Lebensweise kompensiere. Rotwein sei eine Diät, die die Herzkranzgefäße schütze und so die Menschen vor einem Herzinfarkt bewahren könne, vermuteten sie.
Cholesterin
Inzwischen ist die Vermutung zur Gewissheit geworden. Im Rotwein lassen sich nämlich drei Substanzen nachweisen, die eine »antioxydative« Wirkung haben: Quercetin, Catechin und vor allem Resveratrol. Alle drei gehören zur Gruppe der Phenole. Phenole befinden sich in jedem Wein. Aber im Rotwein sind sie in zehnmal größerer Menge enthalten als im Weißwein. Der Phenol-Anteil ist um so höher, je tanninreicher der Wein ist. Mit anderen Worten: Das Tannin (oder die Gerbsäure) des Weins ist es, was das Herz schützt. Es erhöht die Produktion des HDL-Lipoproteins und senkt die Menge des gefährlichen als Cholesterin bekannten LDL-Lipoproteins. Dieses setzt sich bei fettreicher Ernährung nämlich wie Wachs an den Arterienwänden der Herzkranzgefäße ab, verengt sie und kann Herzinfarkte auslösen. Außerdem bindet es Sauerstoff und entzieht diesen dem Blutstrom, so dass der Herzmuskel unterversorgt ist. Rotwein mit seiner hohen Tanninfracht beugt dem vor. Das Tannin oxydiert das Cholesterin und sorgt dafür, dass es abgebaut wird.
Wein allein kann nicht schützen
Es gibt wohl kaum einen Menschen auf der Erde, der Wein trinkt, um sich vor einem Herzinfarkt zu schützen. Wein ist ein Genussmittel und wird auch als solches behandelt. Allerdings könnte das Wissen um die das Herz schützende Wirkung dazu führen, ihm ohne gesundheitliche Befürchtungen zuzusprechen und ihn ohne Reue zu genießen. Wer sich gegen Herzinfarkt schützen will, stellt besser seine Ernährung auf fettarme, Cholesterin-arme Kost um. Auch Bewegung ist wichtig. Wem das nicht genug ist, sollte in die Apotheke gehen. Vitamin E-Tabletten und Betakarotin sind – wenn sie regelmäßig eingenommen werden – wegen ihrer antioxydativen Wirkung als wirksamer Koronarschutz bekannt.
Rotwein statt Alkohol
Allerdings dürfen die gutartigen Wirkungen des Tannins nicht als Aufforderung zu einem möglichst hohen Rotweinkonsum missverstanden werden. So gut Wein für das Herz sein mag, so gefährlich kann der in ihm enthaltene Alkohol für Leber, Magen, Darm und das Nervensystem sein, wenn zu viel davon getrunken wird. Deshalb gilt das »Französische Paradoxon« nicht für Schnaps, Bier oder andere Alkoholika, sondern nur für Wein. Und auch nur dann, wenn Wein moderat getrunken wird. Moderater Weinkonsum bedeutet Genuss in Maßen. Anders ausgedrückt: Es gilt, die positiven Eigenschaften des Weins zu nutzen, ohne die negativen zur Wirkung kommen zu lassen.
Tägliche Weinmenge
Allerdings herrscht unter Fachleuten nicht immer Einigkeit darüber, was »moderat« bedeutet. Eine Flasche eines einfachen und eine halbe Flasche eines gehobenen (alkoholreicheren) Weins – das galt unter Landarbeitern früher als eine allgemein zuträgliche Dosis. Allerdings war der einfache Wein so dünn, dass er nach den heutigen Gesetzen gar nicht in den Verkehr gebracht werden dürfte. Oft wurde er auch mit Wasser verdünnt. Heute werden von den Ärzten ein bis zwei Gläser (à 0,1 Liter) für Frauen und knapp 3 Gläser Wein pro Tag für Männer als unbedenklich befunden. Diese Empfehlungen sind von dem Bemühen getragen, jedes Risiko auszuschließen. Würden die Konsumenten die Ärzte beim Wort nehmen, könnten zwei Personen im Restaurant nie eine Flasche Wein bestellen – es sei denn, sie lassen ein Viertel des Inhalts zurück. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass gesunde, nicht untergewichtige, diabetesfreie Menschen zu zweit eine Flasche leeren können, ohne Schaden an ihrer Leber zu nehmen – und dies regelmäßig. Der Alkoholgehalt des Weins sollte jedoch beachtet werden. Ein leicht restsüßer deutscher Riesling hat 9 Vol.% Alkohol. Ein schwerer kalifornischer Chardonnay oder ein italienischer Barolo weisen dagegen 14 Vol.% auf – über 50 Prozent mehr. Für Menschen, die nicht körperlich arbeiten und sich wenig bewegen, kann das bereits zu viel sein.