In der stay-at-home-Zeit hat sich Kochen bei vielen Menschen als tagesstrukturierende Maßnahme durchgesetzt. Die Timelines in den Sozialen Netzwerken bersten vor Fotos von Selbstgekochtem, von der Hausmannskost bis zur Sterneküche. Es wird live daheim im STREAM oder auf ZOOM gekocht. Und der Weinhandel meldet satte Zuwächse bei online-Bestellungen. Fast könnte man meinen, Deutschland mutiere zum Feinschmecker-Paradies.
Noch nie gab es viele verschiedene Gemüsesorten wie heute
Gesund zu bleiben ist in Corona-Zeiten natürlich das Wichtigste. Vielleicht setzt sich angesichts der kulinarischen Eskapaden, die jetzt sichtbar werden, auch die Erkenntnis durch, dass wir nur mit ausgewogener und gesunder Ernährung fit und widerstandsfähig bleiben. Frisches Gemüse ist das A & O der gesunden Ernährung. Und frisches Gemüse gibt es jetzt en masse: Frühjahrskartoffeln, Gärtnerkarotten, knackiger Mangold, junge Erbsen, Spinat, Frühlingszwiebeln und natürlich Spargel grün und weiß. Allerdings sehen viele Menschen im Gemüse nur eine Beilage zu Fisch oder Fleisch. Das ist schade. Es gibt nämlich jede Menge leckere Gemüsegerichte, die völlig ohne Fleisch und Fisch auskommen. Indem die vegetarische Küche mehrere Gemüsesorten, Kräuter und Gewürze gekonnt miteinander kombiniert, entstehen eigenständige, komplette Gerichte, die auch ohne Tierisches hervorragend schmecken.
Gemüse ja. Aber welcher Wein dazu?
Neben den Standard-Gemüsen gibt es viele alte, in Vergessenheit geratene Gemüsesorten wie die Saubohne oder den Rübstiel (auch Stielmus genannt), die mit dem Trend zum Vegetarischen in den letzten Jahren wieder vermehrt auf Bauernmärkten oder auf Großstadtmärkten angeboten werden. Oder mediterranes Saisongemüse wie die violetten Babyartischocken (Poweraden), Cima di Rapa (Stängelkohl) und Barba di Frate (Mönchsbart), die sich ideal mit anderen Gemüsesorten kombinieren lassen. Viele Restaurants bieten inzwischen vegetarische Gerichte und sogar ganze vegetarische Menüs an. Doch irgendwann taucht die Frage auf, welchen Wein man dazu trinken soll. Das Thema Wein-Pairing nahm in den Diskussionen bislang nur wenig Raum ein. Fisch und Fleisch sowie deren Zubereitung und die dazu servierte Sauce bestimmten die Weinwahl des Sommeliers. Ein Steinbutt mit aufgeschlagener Nussbutter ist ein Traum mit einem Glas gereiften Meursault. Liegen als Gemüsebeilage aber noch Artischocken auf dem Teller, ist die Harmonie schnell dahin: Das Cynarin, das die Artischocke enthält, lässt diesen edlen burgundischen Klassiker plötzlich metallisch, adstringierend und unangenehm bitter schmecken. Die Artischocke gilt als „unvermählbares“ Gemüse.
Wein zur Artischocke unmöglich? Irrtum!
Wenn man Fisch und Buttersauce denkt, bleibt die Artischocke stets außen vor. Die Weinwahl richtet sich, so haben wir es gelernt, immer nach dem Hauptbestandteil eines Gerichts. In diesem Fall nach dem Steinbutt und der Butter. Wir müssen also lernen, zuerst Artischocke zu denken. Oder Aubergine. Oder den Rotkohl. Was für Inhaltsstoffe enthalten sie? Was heißt das für die Weinbegleitung? Bei der Artischocke ist es das angesprochene Cynarin, ein pflanzeneigener Bitterstoff. Er passt nicht zu Weinen mit starkem Holzton, kommt aber mit Bitterstoffen sowie mit Säure sehr gut zurecht, besonders wenn man die Artischocke anbrät. Dadurch bekommt sie Röstaromen. Das bedeutet: ein frischer, säurebetonter Weißwein oder ein Weißwein von der Maische, sogar ein fruchtiger Rotwein ohne Holzgeschmack können dem Esser unerwartete Harmonieerlebnisse bescheren.
Tomaten und Wein – immer noch ein No Go? Falsch!
Rotwein spielt bei der Gemüse-Begleitung normalerweise die zweite Geige. Die meisten Gemüse sind eher Weißwein-affin. Für Rotweine sind Röststoffe und Proteine essentiell. Das bedeutet: Zu proteinreichen Gemüsen kann Rotwein gut funktionieren, also zu Hülsenfrüchten wie Bohnen, Kichererbsen, Linsen sowie zu gebratenen Gemüsen wie Kartoffeln, Auberginen oder geschmorten Tomaten. Eine klassische Parmigiana, wie die Italiener einen Auberginen-Auflauf mit Tomaten nennen, und ein leichter Rotwein sind ideale Partner, beispielsweise ein Chianti. Zwar wird die rohe Tomate auf Grund ihrer Säure als problematisch angesehen. Doch die Tomate begegnet uns zumindest in der italienischen Küche oft als Sugo, also mit Paprika (Peperonata), mit Speck (Amatriciana) oder mit Hackfleisch (Bolognese). In diesen Kombinationen ist die Tomate durchaus Rotwein-affin. Einfache Rotweine, die nur wenig Gerbstoff aufweisen und daher nicht (oder nicht lange) im Holzfass gereift wurden, können also gut zu Tomatengerichten getrunken werden. Zu geschmorten Gemüsegerichten aus dem Ofen mit ihren stark verdichteten Aromen schmecken sogar kräftige Rotweine.
Allgemein gilt: Gemüse ist Weißwein-affin
Die meisten Gemüse freuen sich jedoch über Weißwein. In roher, unverarbeiteter Form kann man zur Tomate zum Beispiel einen trockenen Muskateller oder einen aromatischen, „grasigen“ Sauvignon blanc trinken. Natürlich ist die Wahl des Weins auch beim Gemüse von der Zubereitungsart abhängig. Kohlrabi jubiliert normalerweise bei einem cremigen Silvaner. Wenn der Kohlrabi jedoch in Butter gebraten ist, passt ein Weißburgunder mit leichtem Holztouch besser. Zu Kohlrabigemüse in Sahnesauce mit Estragon kann man auch eine Cuvée aus Riesling und Gewürztraminer in Erwägung ziehen. Generell sind Weißweine mit milder Säure sehr gut geeignet für die Gemüsebegleitung, wobei der Silvaner sich als Ass im Ärmel erweist. Ob vom Muschelkalk, vom Buntsandstein oder vom Keuper, am besten mit zwei, drei Jahren Flaschenreife, ist er ein veritabler Begleiter für frische Erbsen, Fenchel, Feldsalat, Rettich. Süße Gemüse wie Rote Bete, Möhren, Pastinaken, Kürbis oder Schwarzwurzeln harmonieren dagegen hervorragend zu Riesling, der mit seiner knackigen Säure die fruchtig-süße Aromatik der jeweiligen Protagonisten perfekt inszeniert. Junge grüne Gemüse wie Spinat, Cime di Rapa oder Mangold freuen sich ebenfalls über einen vertikalen Säurezug im Wein, der aber die zarten Gemüsearomen nicht überdecken sollte. Ein Chablis oder andere Chardonnays aus dem Stahltanks sind hier oft das Mittel der Wahl. Der absolute Trumpf bei der Gemüsebegleitung sind Schaumweine. Wann immer die Aromen komplex werden und Fett oder Milchprodukte mit ins Spiel kommen, machen Sekt, Cava, Prosecco oder Champagner den Gaumen wieder clean.
Das Buch: 60 Rezepte, dazu ein „Wein-Tacho“
Für diejenigen, die sich tiefer mit der Materie beschäftigen möchten, empfehle ich das Buch ‚Wein & Gemüse‘, dass meine Kollegin Manuela Rüther und ich geschrieben haben. In dem Buch betrachten wir alle Gemüse von A-Z hinsichtlich der Weine, die zu ihnen passen. Welche Inhaltsstoffe sind es genau, die einzelne Gemüse (wie die Artischocke) so schwierig im Pairing machen? Warum sind rohe Zwiebeln komplizierter als Wirsing? Unser Fazit: Für die meisten Gemüse ergaben sich trotz Schwierigkeiten überraschende Möglichkeiten und neue Wege zur Weinbegleitung.
Es gibt nie nur einen Wein, der zu einem Gericht passt
Für alle die, die Lust auf Gemüse haben, egal ob Vegetarier oder Normalesser, haben wir 60 Rezepte entwickelt. Sie reichen von Aubergine bis Zwiebel. Auf die Empfehlung eines speziellen Weines zu den jeweiligen Rezepten haben wir bewusst verzichtet. Dafür haben wir den „Wein-Tacho“ entwickelt, der einen visuellen Eindruck vermittelt, welches Kaliber der zu wählende Wein haben sollte. Anhand des „Tachos“ folgen Empfehlungen, die sich an Rebsorten, Ausbau, Stilistik oder Herkunft orientieren, aber immer mehrere Möglichkeiten zulassen. Es gibt nie nur einen Wein, der zu einem Gericht passt. Es gibt immer eine Vielzahl an Möglichkeiten, unter denen der genusswillige Esser/Weintrinker wählen kann. Den Ballast an tradiertem Vorwissen à la ‚Silvaner zu Spargel‘ wird man nach der Lektüre dieses Buches schnell abwerfen. Und noch etwas: Wer es rein vegetarisch nicht mag, der darf sich auch gerne eine Bratwurst dazu grillen.
Manuela Rüther, Sebastian Bordthäuser: Wein & Gemüse
240 Seiten, Edition Fackelträger, Sonderpreis: 25,00 Euro (inkl. Versand)
Bezug über den Autor: supersebs@gmx.de