Wein & Gesundheit: gigantische Desinformationskampagne

Schützt Wein vor Herzkrankheiten? Antwort: Kommt auf die Studie an, auf die man sich stützt. Oder auf das Medium, über das man sich informiert. Ein aktueller Fall zeigt, wie groß das Informationschaos ist. Am gesündesten lebt vermutlich der, der gar nichts liest.

Vor einem Monat erschien auf SPIEGEL Online ein Bericht mit der Über­schrift: „Die Mär vom gesun­den Gläs­chen.“ Der Bericht stützt sich auf eine wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chung, die Ende letz­ten Jah­res in der ange­se­he­nen Fach­zeit­schrift Bri­tish Medi­cal Jour­nal erschie­nen ist. Dar­in wird eine Unter­su­chung zitiert, der zufol­ge es für die Sterb­lich­keit kei­nen Unter­schied macht, ob die Men­schen Alko­hol trin­ken oder nicht. Von den 4.000 Todes­fäl­len, die sich wäh­rend der fast zehn­jäh­ri­gen Lauf­zeit der Stu­die des Uni­ver­si­ty Col­lege Lon­don (UCL) regis­triert wur­den, waren fast genau­so vie­le Alko­hol­kon­su­men­ten wie Abs­ti­nenz­ler. Die Geschich­te von der gesund­heits­för­dern­den Wir­kung des Weins – alles nur ein Märchen?

Ist Rotwein doch nicht gesund?

Bis­lang glaub­te man, dass ein oder zwei Glas Wein pro Tag gut für die Gesund­heit sei­en. Zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en legen die­se Schluss­fol­ge­rung nahe. Vor allem Rot­wein gilt als gesund. Die dar­in ent­hal­te­nen Phe­no­le haben eine hohe anti­oxi­da­tive Wir­kung. Sie hal­ten unse­re Blut­bah­nen frei von Plaque-Ablagerungen. Sie ver­dün­nen das Blut. Sie stei­gern das „gute“ HDL-Cholesterin. Kurz: Sie beu­gen Herz­in­fark­ten vor. Mode­rat Wein zu trin­ken sei des­halb gesün­der, als kei­nen Wein zu trin­ken – so lau­te­te das Fazit der Mediziner.

Sind Engländer andere Wesen?

Alles Quatsch? Ja, wenn man den SPIEGEL-Online-Artikel ernst näh­me. Zumin­dest schei­nen die segens­rei­chen Wir­kun­gen von ein, zwei Drinks pro Tag für Eng­län­der nicht zu gel­ten. Sie ster­ben mit oder ohne Alko­hol gleich früh oder gleich spät. Sind sie ande­re Wesen? Eher nicht, glaubt der For­schungs­lei­ter der bri­ti­schen Stu­die, Craig S. Knott. Er ist viel­mehr über­zeugt, dass all die ande­ren posi­ti­ven Stu­di­en schwe­re wis­sen­schaft­li­che Män­gel auf­wei­sen. Es sei zu wenig unter­sucht wor­den, ob nicht ganz ande­re Fak­to­ren als der Wein für das län­ge­re Leben der Wein­trin­ker ver­ant­wort­lich sei­en. Viel­leicht, so mut­maßt er, rau­chen Wein­trin­ker sel­te­ner als Nicht-Weintrinker. Viel­leicht ernäh­ren sie sich gesün­der. Viel­leicht sind sie weni­ger über­ge­wich­tig. Viel­leicht beruht das sta­tis­tisch höhe­re Ster­be­ri­si­ko von Nicht-Weintrinkern dar­auf, dass eini­ge von ihnen frü­her Alko­ho­li­ker waren und jetzt unter Spät­fol­gen zu lei­den haben. Viel­leicht, viel­leicht, vielleicht.

Schwere wissenschaftliche Mängel

Scha­det mode­ra­ter Weingenuss?Vielleicht aber auch nicht. Dr. Johan­nes Scholl, nie­der­ge­las­se­ner Arzt aus Rüdes­heim und ers­ter Vor­sit­zen­der der Deut­schen Gesell­schaft für Prä­ven­tiv­me­di­zin, sieht schwe­re wis­sen­schaft­li­che Män­gel bei der bri­ti­schen Stu­die: „Bekannt und wis­sen­schaft­lich gut unter­sucht ist, dass vie­le Bri­ten am Wochen­en­de exzes­siv trin­ken und dann eher Bier und Hoch­pro­zen­ti­ges als Wein“, schreibt er in einem Bei­trag für die Deut­sche Wein­aka­de­mie. „Ganz ande­re Trink­mus­ter wer­den in Frank­reich, Spa­ni­en oder Ita­li­en gepflegt: Dort trinkt man zum Essen mode­rat, gleich­mä­ßig über die Woche ver­teilt und über­wie­gend Wein. Dies macht einen erheb­li­chen Unter­schied im Hin­blick auf das Risi­ko für die Todes­ur­sa­chen Herz­in­farkt und Schlag­an­fall aus: Denn ein mode­ra­ter und regel­mä­ßi­ger Kon­sum schützt, wäh­rend Exzes­se am Wochen­en­de schaden.“

Viel wissenschaftlicher Unfug verbreitet

Im Übri­gen, so Scholl, hät­ten meh­re­re Meta-Analysen bewie­sen, dass die Pro-Wein-Studien metho­disch kor­rekt sei­en. Sehr wohl wür­den ande­re Fak­to­ren in die Unter­su­chun­gen ein­be­zo­gen. Haben die eng­li­schen Kol­le­gen also geschlampt? Sind ihre Aus­sa­gen nicht beweis­bar? Oder bezie­hen sie sich auf ande­re Unter­su­chun­gen als die, auf die der Deut­sche sich stützt?

Dass unter dem Män­tel­chen der Wis­sen­schaft viel Unfug fabri­ziert und ver­öf­fent­licht wird, ist nichts Neu­es. Beson­ders beim The­ma Wein und Gesund­heit. Da rei­hen sich  ver­harm­lo­sen­de Fest­stel­lun­gen, welt­frem­de Rat­schlä­ge und hoch­pro­ble­ma­ti­sche Schluss­fol­ge­run­gen wie Per­len an eine Ket­te. Die Fra­ge ist nur: Soll man dem Dok­tor Knott und sei­nen Lon­do­ner Kol­le­gen glau­ben, mit SPIEGEL Online im Rücken? Oder dem deut­schen Prä­ven­tiv­me­di­zi­ner ohne jour­na­lis­ti­sche Helfershelfer?

Gigantische Desinformation

Lei­der kön­nen Zei­tungs­le­ser und Internet-Nutzer selbst nur schwer ent­schei­den, was wahr und was falsch ist. Und die Medi­en sind wenig hilf­reich. Ein Arti­kel, der die gän­gi­ge Mei­nung gegen den Strich bürs­tet, fin­det leich­ter den Weg in die Zei­tung (oder ins Inter­net) als ein Arti­kel, der sie bestä­tigt – egal wie rich­tig die Bot­schaft ist. Oft fehlt es den Jour­na­lis­ten an Kom­pe­tenz oder Zeit, die wis­sen­schaft­li­chen Ergeb­nis­se, über die sie berich­ten, auf Plau­si­bi­li­tät zu über­prü­fen, beson­ders in den digi­ta­len Medi­en, wo kei­ne Zeit für grö­ße­re Recher­chen ist.

Das Resul­tat ist eine gigan­ti­sche Des­in­for­ma­ti­on über das, was Alko­hol und Wein bewir­ken. Am gesün­des­ten ist es aus prä­ven­tiv­me­di­zi­ni­scher Sicht wahr­schein­lich, gar nichts zu lesen – und sei­nen Wein in Ruhe zu trin­ken oder auch nicht.

3 Kommentare

  • Rie­sen­blöd­sinn. Hier wird wie­der ver­sucht, den Wein in ein gutes Licht zu rücken oder wenigs­tens so viel Ver­wir­rung zu stif­ten, dass den Leu­ten scheint, die Lage sei nicht klar. Am gesün­des­ten lebt, wer gar nichts trinkt, das ist lan­ge wis­sen­schaft­li­cher Kon­sens. Es gibt meh­re­re Stu­di­en und Durch­sich­ten dazu. Die paar Stu­di­en, die Abs­ti­nenz­ler leicht schlech­ter als mode­ra­te Trin­ker dar­stel­len, haben unbe­rei­nig­te Daten­sät­ze, da unter den Abs­ti­nenz­lern vie­le Men­schen mit Vor­er­kran­kun­gen sind, dazu gehö­ren auch frü­he­re Alko­ho­li­ker. Eben­so ist das, was im Wein an gesun­den Stof­fen ent­hal­ten ist, dort in so gerin­ger Men­ge ent­hal­ten, dass man pro Tag meh­re­re Fla­schen trin­ken müsste.

    • Medi­zi­nisch am gesün­des­ten lebt, wer gar nichts trinkt – das dürf­te stim­men. Aber die Bot­schaft des von Ihnen als “Rie­sen­blöd­sinn” bezeich­ne­ten Arti­kels ist: Wer Wein trinkt, lebt des­we­gen nicht unge­sund. Wein macht nicht krank, nur weil er Alko­hol ent­hält (wobei es – klar – um mode­ra­ten Wein­ge­nuss geht). Eine sol­che Stu­die gibt es nicht. Inso­fern ver­wirrt der Arti­kel nicht, son­dern schafft Klar­heit. Ich per­sön­lich glau­be aller­dings auch nicht, dass Wein­trin­ker wegen der Vit­ami­ne und Anti­oxi­dan­ti­en, die Wein ent­hält, gesün­der leben als Nicht-Weintrinker. Wer täg­lich einen Apfel mit Scha­le isst, nimmt mehr Poli­phe­no­le auf als einer, der eine Fla­sche Rot­wein trinkt. Wein­trin­ker leben wahr­schein­lich freud­vol­ler, aber nicht gesün­der. Und noch etwas: Vie­le der exis­tie­ren­den Stu­di­en haben all­ge­mein “Alko­hol” zum The­ma, nicht Wein. Wein aber wird in aller Regel anders getrun­ken als Bier, Whis­ky, Korn und ande­re Schnäp­se. Dadurch sind die Ergeb­nis­se die­ser Stu­di­en unbrauch­bar für Aus­sa­gen über die Wir­kun­gen von Wein auf die Gesund­heit. Wer sich zudem die Mühe macht, die empi­ri­schen Unter­schun­gen über Alko­hol prü­fen, stellt unschwer fest, dass vie­le metho­disch höchst frag­wür­dig sind – um es mil­de aus­zu­drü­cken. Ich erin­ne­re mich an eine Lang­zeit­stu­die aus Eng­land, deren Aus­sa­gen auf einem Sam­ple vier (!) Per­so­nen beruh­te. Das ist Wis­sen­schafts­schrott, nicht Wissenschaft.

Antwort schreiben