Verdicchio: Wein für Spießer? Spannendster Weißwein Italiens!

Blick auf Morro d'Alba
Blick auf Morro d'Alba © marotticampi.it
Seit die Weinindustrie ihr Monopol auf den Verdicchio verloren hat, ist er zum spannendsten unter den autochthonen Weißweinen Italiens geworden. Warum? Weil er nicht nur frisch getrunken werden, sondern auch reifen kann, berichtet Patrick Hemminger.

Inhalt:


Ver­dic­chio aus den Mar­ken (aus­ge­spro­chen: werdik-jo) steht in jeder ita­lie­ni­schen Vor­stadt­piz­ze­ria auf der Wein­kar­te. Aber auch der gute Ver­dic­chio? Oder nur der bil­li­ge, der aus den Stahl­tanks gro­ßer Wein­kel­le­rei­en fern­ab sei­nes ange­stamm­ten Anbau­ge­biets in der Regi­on Mar­ken kommt? Bei­de. Das ist schon ein Fort­schritt. Denn vor 25 Jah­ren tauch­ten da nur wäss­ri­ge, nahe­zu farb­lo­se Indus­trie­wei­ne auf, die wie Rasier­was­ser mit Koh­len­säu­re schmeck­ten und oft in einer folk­lo­ris­ti­schen Ampho­ren­fla­sche abge­füllt waren.

Industrie-Verdicchios und Bauern-Verdicchios

Zwar gab es auch damals bereits vie­le klei­ne Win­zer in den Mar­ken, die sich mit Fleiß und Lei­den­schaft der gleich­na­mi­gen Reb­sor­te wid­me­ten, aber meis­tens ohne viel Kön­nen. Von weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen, exis­tier­ten neben den Industrie-Verdicchios zu jener Zeit nur fet­te, nicht sel­ten unfri­sche, tief­gel­be Ver­dic­chi­os, die in Dorf­trat­to­ri­en an Ein­hei­mi­sche aus­ge­schenkt wur­den. Ins Aus­land gelang­ten die­se Wei­ne selten.

Anbau­ge­biet Ver­dic­chio Cas­tel­li di Jesi­Die Industrie-Verdicchios gibt es noch immer. Sie blo­ckie­ren nach wie vor die Rega­le der Super­märk­te und Duty Free Shops. Aber sie sind nicht mehr reprä­sen­ta­tiv für das Anbau­ge­biet um die Hafen­stadt Anco­na. Aus den vie­len klei­nen Win­zer­be­trie­ben sind inzwi­schen respek­ta­ble Wein­gü­ter gewor­den, in denen eine neue, gut aus­ge­bil­de­te Gene­ra­ti­on von Win­zern arbei­tet, die Ehr­geiz hat und von der Auf­ga­be beseelt ist, aus der alten Reb­sor­te Ver­dic­chio einen hoch­qua­li­ta­ti­ven,  unver­wech­sel­ba­ren Wein zu erzeugen.

Wein für Spießer und Langweiler?

Die Zei­ten, in den der Ver­dic­chio ein Wein für Spie­ßer und Lang­wei­ler war, sind also vor­bei.  Die guten Ver­dic­chio von heu­te sind stof­fi­ge, fein­strah­li­ge Weiß­wei­ne, die gern jung getrun­ken wer­den, wenn sie noch frisch und kna­ckig sind. Sie sind  gehalt­vol­le, unkom­pli­ziert zu trin­ken­de, aber nie simp­le Wei­ne, die durch sal­zi­ge Mine­ra­li­tät, aus­ge­präg­te Kräu­ter­aro­men und eine ele­gan­te Bit­ter­no­te glän­zen. Und sie kos­ten kein Ver­mö­gen. Die Prei­se für die Basis­qua­li­tä­ten lie­gen um 6 Euro, für die geho­be­nen Qua­li­tä­ten um 10 Euro.

Überraschung: Ein Verdicchio kann reifen

Mehr noch: Ein Ver­dic­chio kann durch­aus ein paar Jah­re auf der Fla­sche rei­fen, die geho­be­nen Qua­li­tä­ten jeden­falls. Die Rede ist von fünf Jah­ren, manch­mal auch zehn oder mehr Jah­ren. Das habe ich auf einem Kurz­trip in die Mar­ken erfah­ren kön­nen. Kon­kret: in das Anbau­ge­biet des Ver­dic­chio Cas­tel­li di Jesi und tie­fer im Lan­des­in­ne­ren gele­ge­ne Gebiet Ver­dic­chio di Mate­li­ca.  Wer ab und zu Lust auf gereif­te Weiß­wei­ne hat, der soll­te sich eine Kis­te in den Kel­ler legen und für ein paar Jah­re ver­ges­sen. Dann ist der Wein reif, kom­plex und ein wun­der­ba­rer Spei­sen­be­glei­ter – und das nicht nur zu Fisch. Lesen Sie dazu die State­ments von vier Wein­erzeu­gern, die ich auf mei­nem Trip getrof­fen habe.


Stefano Antonucci

Inhaber des Weinguts Santa Barbara

„Die­ser Wein hier“, sagt Ste­fa­no Anto­nuc­ci, und zeigt auf eine Fla­sche sei­nes Basis­weins Le Vag­lie, „kos­tet im Super­markt neun Euro – und der kann altern.“ Anto­nuc­ci selbst trinkt sei­nen Ver­dic­chio zwar lie­ber jung und frisch, beob­ach­tet aber einen Trend zu gereif­ten Sachen.

Immer mehr gute Restau­rants in der Regi­on wür­den ent­we­der nach älte­ren Jahr­gän­gen suchen oder sich ein paar Kis­ten vom aktu­el­len in den Kel­ler legen. Anto­nuc­ci bewahrt grund­sätz­lich 200 Fla­schen von jedem Wein auf und kann den Gas­tro­no­men meist weiterhelfen.

Auch wenn er sel­ber Ver­dic­chio gern im ers­ten Jahr nach der Lese trinkt, so kann er sich doch der Fas­zi­na­ti­on sei­ner eige­nen, gereif­ten Wei­ne nicht ent­zie­hen. „Riech doch mal, schmeck doch mal“, sagt er. „Der 2007er geht für mich schon in Rich­tung Bur­gund, dem ers­ten Ein­druck nach ist das kein Ver­dic­chio. Die Säu­re ist nur noch unter­schwel­lig zu spü­ren, aber der Wein ist noch total fit!“


Giovanni Marotti Campi

Inhaber des Weinguts Giovanni e Francesca Marotti

Gio­van­ni Marot­ti Campi„Ich mag Ver­dic­chio, denn er ist in mei­nen Augen eine der weni­gen Sor­ten, die gut rei­fen kön­nen. Und zwar nicht wegen der Säu­re, son­dern wegen ihrer Struk­tur“, sagt Gio­van­ni Marot­ti Cam­pi. Aber Vorsicht:

“Soll sie altern, ist die Reb­sor­te manch­mal ein biss­chen zickig.”

Marot­ti Cam­pi hat mit sei­nen Wei­nen die Erfah­rung gemacht, dass sie sich nach ihrer jugend­li­chen Sturm-und-Drang-Phase erst ein­mal ver­schlie­ßen. Das dau­ert etwa drei bis vier Jah­re, dann begin­nen sie wie­der Spaß zu machen und ers­te Rei­fen­o­ten zu zeigen.

Dem Win­zer gefällt an sei­nen gereif­ten Wei­nen, wie gut sie zu den Spei­sen der Regi­on pas­sen. „Ein Ver­dic­chio über­deckt nicht den Geschmack des Essens son­dern unter­stützt ihn. Sei­ne Sal­zig­keit passt außer­dem gut mit anspruchs­vol­le­ren Gerich­ten“, sagt er, etwa See­teu­fel (Lot­te) mit Oli­ven und Tomaten.


Giuliano D’Ignazi

Direktor der Cantina Moncaro

Giu­lia­no D’Ignazi schnup­pert am Glas einer Verdicchio-Riserva aus dem Jahr 2013 und schüt­telt den Kopf. „Die­ser Wein ist noch nicht fer­tig. Das ist er viel­leicht in zwei oder drei Jah­ren“, sagt der tech­ni­sche Direk­tor der Coope­ra­ti­ve Mon­ca­ro. D’Ignazi weiß, wovon er spricht.

„Gereift ist ein Ver­dic­chio ein­fach komplexer.”

Er oxy­diert dabei aber nicht, son­dern bleibt frisch. Er bekommt bal­sa­mi­sche Noten, Gewür­ze wie Anis wer­den stär­ker,  dazu getrock­ne­te Würz­kräu­ter und getrock­ne­te Zitro­nen­scha­len. Dazu passt dann wun­der­bar gedüns­te­ter Fen­chel mit Fisch. Nach acht bis zehn Jah­ren tau­chen dann Petrol­no­ten auf, wie man sie von gereif­tem Ries­ling kennt“, sagt er und ent­korkt eine Fla­sche des Jahr­gangs 2001.

Er lächelt: „Das ist mein Lieb­lings­jahr­gang, ein sehr beson­de­rer und ele­gan­ter Wein. Ich habe Noten von Petrol, Ahorn­si­rup, Kräu­tern und gel­ben Früch­ten in der Nase. Am Gau­men fin­de ich wie­der Ahorn­si­rup und Kräu­ter, dazu Orangen- und Zitro­nen­scha­len. Außer­dem ist die Säu­re noch schön prä­sent. Dazu hät­te ich jetzt ger­ne gereif­ten Hart­kä­se oder eine Trüffelpasta.“


Roberto Potentini

Önologe der Cantine Belisario

Rober­to Poten­ti­niE­in paar Kilo­me­ter land­ein­wärts ändert sich die Land­schaft. Es wird ber­gi­ger. Auf bis zu 1500 Meter Höhe über dem Meer erstre­cken sich die Gip­fel das Apen­nin. Das Kli­ma ist nicht mehr medi­ter­ran son­dern kon­ti­nen­tal. Auch dort wird Ver­dic­chio ange­baut, zum Bei­spiel von der Genos­sen­schaft Belisario.

Der Öno­lo­ge Rober­to Poten­ti­ni erklärt, wie sich der Wein aus Mate­li­ca von dem aus Jesi unter­schei­det: „Zum einen sind bei uns die Dimen­sio­nen viel klei­ner. Jesi ist zehn Mal grö­ßer als wir. Zum ande­ren lie­gen die Wein­ber­ge hier viel höher. Bei uns wach­sen die Reben zwi­schen 420 und 900 Metern, in Jesi bis maxi­mal 300 Metern.

Das bedeu­tet natür­lich eine ganz ande­re Sen­so­rik des Weins, fri­sche­re und prä­sen­te­re Säu­re.“ Sein Lieb­lings­wein ist der­zeit der Jahr­gang 2009, „die Har­mo­nie, die Inten­si­tät der Aro­men, die kräf­ti­ge Nase, am Gaumen…hach! Je wei­ter man zurück­geht, des­to sal­zi­ger wirkt die Säu­re, die Ter­ti­är­aro­men wer­den immer mehr. Kamil­le, Tee, Honig und ganz deut­lich Sal­bei“, sagt Poten­ti­ni. „Beim Ver­dic­chio ist das so: zu Anfang haben wir einen hohen Zucker­wert, eine hohe Säu­re und einen nied­ri­gen Ph-Wert. Das alles sind wun­der­ba­re Instru­men­te fürs Altern eines Weins, das soll­ten die Leu­te viel öfter mal probieren.“

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