Zwei Lagen-Barolo erzeugt Luciano Sandrone seit vielen Jahren: Alesto heißt der eine (früher Cannubi Boschis), Le Vigne der andere. Beide gehören zu den besten Barolos überhaupt. Die Wertungen der internationalen Kritiker schwankten in den letzten Jahren zwischen 95 und 98 Punkten. Bald nun gibt es einen dritten Barolo. Er soll Vite Talin heißen. Im Sommer 2019 wird er freigegeben. Und es hat den Anschein, dass punktemäßig noch einmal draufgesattelt wird.
Begeisterung und Ratlosigkeit liegen dicht beieinander
Vor ein paar Wochen hatte Sandrone ein Dutzend Freunde, Wegbegleiter und Kritiker ins Weingut eingeladen, um den neuen Barolo zu verkosten: den (ersten) Jahrgang 2013 und die folgenden, teils noch im Fass schlummernden Jahrgänge. Die Reaktion: glänzende Augen, enthusiastische Kommentare, aber auch Unsicherheit und viele Fragen.
Wie gut ist der Vite Talin? Er ist etwas dunkler in der Farbe als die beiden anderen Lagen-Barolos, etwas fruchtiger in der Nase, erinnert mehr an frische Frucht als an welke Blumen oder Herbstlaub – die typischen Gerüche eines Barolo. Vor allem aber hat er deutlich mehr Tannin. Zugegeben, das Tannin ist feinkörnig und süß, nicht trocken. Aber es hat den Wein fest im Griff. Fester als bei Sandrones beiden anderen Barolos. Tannin ist, Kenner wissen es, das wichtigste Element komplexer Rotweine. Es sorgt dafür, dass die Weine zusammengehalten werden. Dass sie reifen können, ohne auseinander zu fallen. Dass sie ihre Frische bewahren.
Ist der Vite Talin ein „game changer“?
Die für Italien zuständige Verkosterin des amerikanischen Kritikers Robert Parker hat dem Vite Talin vorsichtshalber schon mal 100 Punkte gegeben, das Maximum. Es ist die höchste Wertung, die sie einem Barolo aus dem 2013er Jahrgang zukommen lässt. Ein mutiges Votum. Selbst der Monfortino von Giovanni Conterno, der international am höchsten bewertete Barolo, erreicht nach ihrer Wertung nur 98 – 100 Punkte. Ist der Vite Talin ein galaktischer Wein? Besitzt er außerirdische Qualitäten? Die Kritikerin verrät es nicht. Sie nennt ihn einen „game changer“, was man frei übersetzen könnte als ein Barolo, der neue Maßstäbe setzt.
Ist noch mehr Tannin zu viel Tannin?
Neue Maßstäbe? Deutlich mehr Tannin besitzt der Vite Talin, das ist unstrittig. Die Frage, die sich stellt, lautet vielmehr: Ist das für den Wein gut oder schlecht? Skeptiker könnten zum Beispiel fragen: noch mehr Tannin? Der Barolo ist sowieso schon einer der tanninreichsten Rotweine der Welt. Dieser Umstand verleidet den Barolo schon jetzt vielen Rotwein-Liebhabern (gleiches gilt übrigens für den Barbaresco, der aus der gleichen Traube gewonnen wird: der Nebbiolo). Besonders in Deutschland ist die Fan-Gemeinde dieses Weins relativ klein. Gefühlt schrumpft sie sogar. In den USA, dem größten Absatzmarkt für Barolo in der Welt, steigt die Wertschätzung dagegen beständig. Auch die Liebe der Schweizer zum Barolo ist wesentlich intensiver als die der Deutschen. Vielleicht sind die Menschen in diesen Ländern der zahllosen weich gespülten Rotweine leid, die aus allen Ecken der Welt kommen und sich den Weg in die Regale des Weinhandels bahnen. Vielleicht haben die Konsumenten dort mehr Geduld und lassen ihre Barolo-Flaschen länger im Keller reifen, bevor sie den Korken ziehen. Vielleicht ist ihnen das Tannin egal angesichts der des einzigartigen Aromenspektrums, das der Barolo bietet. Sei’s drum: Einen noch Tannin-stärkeren Barolo zu erzeugen, könnte riskant sein. Es besteht ganz objektiv die Gefahr, dass der Wein ausser Balance gerät: zuviel Struktur, zu wenig „Fleisch“ aufweist. Beziehungsweise in den ersten 20 Jahren ungenießbar ist.
Keine kommerziellen Überlegungen
Um den „Vite Talin“ zu verstehen, muss man erst einmal wissen, dass Sandrone keiner ist, der seine Weine vorsätzlich zurichtet – wie es viele Bordeaux-Châteaux nach dem Parker-Hype in den 1990er Jahren taten. Einen Wein mit mehr Tannin zu befrachten, indem er die Extraktion verstärkt, käme für ihn nicht in Frage. Umgekehrt entschärft er seine Barolo nicht, damit sie möglichst vielen Menschen schmecken. Derlei kommerzielle Überlegungen sind ihm fremd. Auch nicht notwendig: Vom ersten Jahrgang an (1978) verkauften sich seine Weine völlig problemlos. Heute übersteigt die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches – und das bei Preisen von 90 Euro pro Flasche und mehr. Sandrones Ziel ist es, den Barolo so, wie er wächst, auf die Flasche zu bringen. Und da der Vite Talin von Trauben kommt, die eine dickere Schale haben als normale Nebbiolo-Trauben, bringt er von Natur aus mehr Tannin mit, was sich schlussendlich im Wein niederschlägt.
Die Geschichte des Vite Talin beginnt vor 30 Jahren
Ein Wein von außerirdischer Qualität ist er damit freilich nicht, zumindest nicht automatisch. Möglicherweise gelten die 100 Punkte der Parker-Mitarbeiterin der ungewöhnlichen Biografie des Vite Talin. Dieser Biografie widmet Monica Larner – so heißt die Kritikerin – den größten Teil ihrer Weinbeschreibung, wobei die Biografie eigentlich die von Luciano Sandrone ist. Sie beginnt 1987. Da fiel dem Winzer bei Pflegearbeiten in einem alten Nebbiolo-Weinberg ein einzelner Rebstock auf, an dem ungewöhnlich kleine Trauben mit kleinen Beeren hingen – deutlich kleiner als an den benachbarten Nebbiolo-Stöcken. Auch waren die Beeren am Stiel auffällig locker angeordnet. Und die Einbuchtungen auf den Blättern waren runder. Sandrone stutzte. Ein neuer Nebbiolo-Klon? Oder eine Kukucksrebe? Er fragte den Besitzer, der ihm den Weinberg verpachtet hatte, wann die Reben gepflanzt worden seien. Vor etwa 50 Jahren, antwortet dieser, seines Wissens alles Nebbiolo.
Der Rat der Wissenschaftler: den Weinberg roden
Sandrone ließ Trauben und Blätter von einem Ampelografen, einem Rebenkundler, untersuchen. Der bestätigte die Auffälligkeiten, ohne eine Erklärung liefern zu können. Auch die Winzerkollegen waren ratlos. Die Angelegenheit ließ Sandrone nicht ruhen. 1988 ließ er von der Universität Turin das Holz der auffälligen Rebe untersuchen (DNA-Untersuchungen gab es damals noch nicht). Befund der Wissenschaftler: eine Nebbiolo-Rebe, die von einer Virose befallen sei. Es bestehe Gefahr, dass die umstehenden Reben infiziert würden. Daher sei es ratsam, den gesamten Weinberg zu roden.
Erster Ertrag: zwei Liter Wein
Sandrone nahm die benachbarten Stöcke der „kranken“ Rebe in Augenschein und stellte fest: alles regulär. Keine Auffälligkeiten. Keine Infektion. Er ließ die Rebe stehen. 1989 vinifizierte er die Trauben der „kranken“ Rebe erstmals separat. Er erhielt zwei Liter Wein. Im Geschmack ähnelte der Wein einem Barolo. Aber er hatte eine dunklere Farbe und mehr Tannin. Sandrone war unsicher. Rausreißen oder stehen lassen und der Sache weiter auf den Grund geben? Er entschied sich für letzteres. Er schnitt 50 Reiser, ließ sie in einer Rebschule auf passende Unterlagsreben pfropfen und pflanzte sie aus. Nach ein paar Jahren konnte er 100 Liter Wein ernten. Das Ergebnis war das gleiche: ein wie Nebbiolo schmeckender, aber irgendwie anderer Wein.
Außer der Familie wusste niemand von dem Experiment
Da der Besitzer des Weinbergs – sein Name: Natale – ohne Nachfahren war, verkaufte dieser wenig später den Weinberg an Sandrone. Nun ließ Sandrone mehrere tausend Reiser der „kranken“ Nebbiolo veredeln und pflanzte sie 1995 in zwei kleinen, zusammen 1,3 Hektar großen Parzellen in Barolo aus – die eine auf dem ehemaligen Friedhof des Dorfes, die andere an einer Stelle, die durch einen breiten Wirtschaftsweg von anderen Weinbergen getrennt war. Eine Art Sicherheitsabstand für den Fall, dass die mysteriöse Rebe tatsächlich von einem Virus befallen sein sollte und anderen Weinbergen gefährlich werden könnte. Außer der Familie wusste niemand von dem Experiment. Die Geheimhaltung hatte einen Grund: Wenn es sich bei der unbekannte Rebe nicht um eine Nebbiolo handelte, müsste er, so seine Befürchtung, die beiden Parzellen wieder roden.
Der Wein ist „sympathisch“. Aber ist er ein Barolo?
Spannend wurde es dann drei Jahre später, als die ersten Trauben geerntet wurden. Sie waren, wie erwartet, klein, lockerbeerig, dickschalig. Der Wein, der daraus entstand, war „sympathisch“, wie Luca, Sandrones Bruder und rechte Hand, sich erinnert. „Wir waren uns“, sagt er, „zu dem Zeitpunkt aber sicher, dass es keine Nebbiolo-Reben sein konnten, die wir gepflanzt hatten.“
Resistent gegen Botrytis und Peronopora
In den folgenden Jahren zeigte sich, dass die Trauben nicht nur anders aussahen, sondern sich im Biotop Weinberg auch anders verhielten. Sie waren nicht Botrytis-anfällig und erwiesen sich als nahezu resistent gegen Peronospora, den Falschen Mehltau – für Sandrone und seinen Bruder ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um eine andere, unbekannte Rebe handeln musste.
Die ersten 15 Jahrgänge wurden offen verkauft
Trotzdem vinifizierten die beiden den Wein ähnlich wie ihre zwei anderen Barolos. Nur ließen sie ihn bis zu zwei Monate auf der Maische stehen (statt nur drei Wochen), wegen des höheren Tanningehalts verlangte der Vite Talin eine längere Ausbauzeit. Statt 24 Monate ließen sie ihn 36 Monate im Holzfass reifen: 24 Monate in 500 Liter-Tonneaux und ein Jahr im großen Holzfass. Das Tannin sollte polymerisieren, der Wein weicher werden. Offiziell abgefüllt wurde der Wein nicht, auch nicht in den folgenden Jahren. Sandrone wusste ja nicht, wie er ihn etikettieren sollte. Er verkaufte ihn für ein paar Euro pro Liter offen an Händler. Für sich selbst behielt er nur ein paar Referenzflaschen zurück. Familienintern hieß der Wein einfach „Vite Talin“. Vite bedeutet Rebstock, und Talin ist im piemontesischen Dialekt der Rufname für Natale, den Besitzer des Ursprungs-Weinbergs.
Die Auflösung des Rätsels
Aufgelöst wurde das Rätsel um den Wein erst 2017. Eine DNA-Analyse förderte zu Tage, dass es sich bei den Vite Talin-Reben tatsächlich um Nebbiolo handelt, und zwar um eine alte, wahrscheinlich durch einen Virus hervorgerufene Mutation. Anders ausgedrückt: eine hochwertige, ausgestorbene Nebbiolo-Spielart. Nach 30 Jahren stand also fest, dass der geheime Wein ein Barolo ist.
„Ein weicher Barolo ist er nicht“
Soweit die Geschichte des Vite Talin. Sie allein ist 100 Punkte wert. Ob der Wein selbst zu den ganz, ganz großen Barolo-Gewächsen gehört oder gehören wird, ist damit noch nicht gesagt. Auch Sandrone ist noch unsicher, wie er einzuordnen ist: „Ein weicher Wein ist er jedenfalls nicht. Sicher sind wir uns nur, dass er sich in 20 Jahren bestens entwickeln wird, mindestens.“
Luciano und Luca haben, nachdem das Rätsel gelöst war, die noch im Fass ruhenden Jahrgänge sofort auf Flaschen gezogen. Offen verkauft wird seitdem nichts mehr. Wenn der 2013er freigegeben wird, ist er drei Jahre im Fass und drei weitere Jahre auf der Flasche gereift. Über den Preis wird nichts verlautbart. Ein Schnäppchen wird der Wein wahrscheinlich nicht sein.
Der wahre Härtetest kam am Ende
An jenem trüben Novembertag dieses Jahres, an dem sich das Dutzend Freunde im Weingut einfanden und neben dem 2013er auch die 2014er, 2015er, 2016er und 2017er, die noch im Fass liegen, verkosten konnten, wurde er Vite Talin dem eigentlichen Härtest unterzogen. Nach allgemeiner italienischer Auffassung zeigt ein Wein seine wahre Größe nämlich erst beim Essen. Das heißt: Die Esser und die Küchenchefs aus der Region bestimmen, ob der Wein gut ist und wie er eingeordnet werden muss. Ihr Daumen – nach oben oder unten zeigend – ist wichtiger als alle Kritikerpunkte.
Prüfung souverän bestanden
Dessen eingedenk hatte Sandrone einen Meister seines Fachs eingeladen, um seine Gäste zu bekochen und den Härtetest durchzuführen: Renzo Vivalda, Chef des 2 Sterne-Michelin Restaurants Antica Corona Reale in Cervere, einem Dorf nicht weit Alba entfernt. Beim pochierten Ei mit einer Käsefonduta, über die weißer Trüffel gehobelt wird, zeigt sich, ob ein Wein untergeht oder seine Delikatheit bewahrt. Nach allgemeiner Einschätzung der Anwesenden bestand der Vite Talin diesen Test. Die härteste Prüfung kam dann mit der berühmt-berüchtigten Finanziera, einem traditionell piemontesischen Bauerngericht: eine Art Ragout aus Hahnenkamm, Hahnenmägen, Nierchen, Ziegenbries sowie frittiertem Ziegenhirn und Ziegenmark. Aber auch diesem Gericht, das dem Gaumen einiges abfordert, war der neue Barolo souverän gewachsen. Der Autor dieses Artikels geht deshalb davon aus, dass der Vite Talin auch bei Lammkeule, Dry Aged Beef und Hirschsteak nicht einknickt.
Das Urteil über den Vite Talin lässt sich schwer in Zahlen ausdrücken
Und wie bewertet er selbst den neuen Barolo? In Mathe war er nie gut in der Schule, weshalb er sich sich mit Zahlen schwertut. Aber ihm hat gefallen, was eine russische Kollegin, die an diesem Abend mit am Tisch saß, über den Vite Talin sagte: Vielleicht sei er die „anima persa“ des Nebbiolo, die verlorene Seele. Er selbst würde es anders sagen: eine Art Ur-Barolo, ungezähmt, ungehorsam, mitreißend. Ein dramatischer Wein also, kein Weichspüler.