„Warum denn auch nicht?“ werden regionalstolze Franken auf die Feststellung reagieren, dass ein trockener Silvaner reifen kann. Immerhin ist die Rebsorte spätestens seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil des kulturellen Erbes der Weinregion. Dennoch ist die Feststellung keineswegs selbstverständlich, betrachtet man die vier wichtigsten Erfolgsparameter für lagerfähige Weine: Alkohol, Zucker, Tannin, Säure. Der Silvaner erfüllt sie allesamt nur unzulänglich. Weder steht er für außergewöhnlich hohe Mostgewichte, noch bringen die Weine aus dieser Sorte besonders hohe Tanningehalte oder übermäßig markante Säurewerte mit.
Elf Jahrgänge, eine Rebsorte, eine Lage
Wieso ich das schreibe? Weil ich eingeladen wurde, im Weingut des Würzburger Bürgerspitals gereifte Silvaner zu verkosten, aus Jahrgängen von 1961 bis 2020. Fangen wir mit den ältesten Weinen an: Wirklich trockenen Wein gab es in den 1960ern in Franken gar nicht, zumindest nicht im modernen weinrechtlichten Sinn, sprich: mit weniger als neun Gramm Zucker pro Liter. Was es gab, waren Silvaner mit Restzuckergehalten von edelsüß über fruchtsüß bis zu feinherb, letztere mithin fast trockene Kabinetts oder Spätlesen. Die „fränkisch-trockenen“ Weine, also die mit nicht mehr als vier Gramm Restsüße, kamen erst in den 1970er und 1980er Jahren auf.
Die elf verkosteten Silvaner entstammen alle demselben Weinberg: der als Große Lage klassifizierten Stein-Harfe, einem Herzstück des Würzburger Stein. Konkret waren es die Jahrgänge 1961, 1967, 1976, 1981, 1994, 2011, 2013, 2014, 2016, 2017 und 2020. Obwohl Events solcher Art in der Regel Publikum mit gesteigertem Involvement, in diesem Fall Journalisten, vorbehalten sind, kann man sie auch einfach frivol nutzen, um – Verzeihung – mal richtig “leckere” Weine zu trinken. Gut gereifte Kreszenzen voller Finesse und Lebendigkeit bekommt man schließlich nicht alle Tage vorgesetzt. Dennoch möchte ich drei Erkenntnisse aus diesem Silvaner-Tasting herausstellen.
Erkenntnis I: Silvaner kann reifen
Die erste Erkenntnis nimmt der obige Titel schon vorweg: trockener Silvaner kann reifen. Faszinierend ist, dass er sich mit den Jahren recht wenig zu verändern scheint. Zwischen einem jungen wilden und einem reifen anmutigen Riesling, dem der Ruf eines großen Reifepotentials schon vorrauseilt, liegen Welten. Im Gegensatz dazu wirken die alten (wie die neuen) Silvaner auffällig kompakt, sie gehen nicht in die Breite, bewahren sich herbe Noten von Mostapfel und vegetabilen Substanzen. Bestes Beispiel: der 1994er, der auch nach 27 Jahren noch richtig frisch im Glas steht und eine straffe Struktur mitbringt.
Erkenntnis II: Gute Lagen können reifen
Die zweite Erkenntnis, ist dass gute Lagen auch in schwachen Jahren große und langlebige Silvaner hervorbringen können. “Wir wollten nicht nur Angeber-Jahrgänge aufmachen”, so Markus del Monego, Moderator der Verkostung. 1981 etwa, ein schwieriger Jahrgang, der Sommer heiß, aber kurz, mit spätem Frost im Frühjahr und frühem Kälteeinbruch im Herbst. Trotzdem gibt sich der Wein heute enorm lebendig und präsent, leicht speckig und von gelbem Apfel geprägt, der sich wie ein roter Faden von 1961 bis 2020 durch die Stein-Harfe zieht.
Auch die 1960er Jahre waren nicht einfach: “Das war, bis auf 1967, kein großes Jahrzehnt”, sagt Gutsdirektor Robert Haller, der das Tasting organisiert hat. 1961 ist dementsprechend einer der würzigsten und reifsten Weine der Verkostung, mit subtil ledrigen Aromen, ein wenig Weißbrot, aber auch fruchtigen Komponenten, restsaftiger Struktur und Himbeergeist. Den „großen“ und deutlich klareren, filigraneren und betörend nach Pfefferminze duftenden 1967er gibt es dann auch noch zum Abschluss, sozusagen als Leckerli.
Die Erkenntnis, dass große Lagen auch in kleinen Jahren gute Weine hervorbringen, ist weder auf die Stein-Harfe noch auf Silvaner oder das Bürgerspital beschränkt, sondern bestätigt sich immer wieder. Viele trockenen Rieslinge aus 2003 (Hitze), die meisten aus 2006 (auch Hitze) und auch zahlreiche 2010er (Regen und Botrytis) sind mittlerweile hinüber. Anders die Weine aus großen Lagen (allerdings sind das bei weitem nicht alle “VDP.Großen Lagen®”): Beispielsweise sind 2003, 2006 oder 2010 aus Robert Weils Gräfenberg, aber auch die 2016er des Bürgerspitals (Regen und Mehltau) heute wunderbar stringente Weine.
Erkenntnis III: alteingesessene Häuser können reifen
Die dritte Erkenntnis ist, dass die Weine alteingesessener Güter meist zuverlässig reifen. Das hat mehrere Gründe, der wohl plakativste ist in Erkenntnis II zu finden. Denn alteingesessene Häuser sind meist in Besitz guter Lagen. Die Stein-Harfe ist ein steiles, steiniges, tiefgründiges Filetstück des Würzburger Steins und seit jeher in Alleinbesitz des Bürgerspitals. Das Weingut selbst existiert seit dem 14. Jahrhundert und umfasst mittlerweile 120 Hektar: genug Zeit also, um erstklassige Parzellen anzusammeln.
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Außerdem – und das ist vermutlich der wichtigste Punkt – pflegen alteingesessene Betriebe ihre Schatzkammern meist gewissenhafter als kleine Familienwinzer. 25.000 Flaschen umfasst die Schatzkammer des Bürgerspitals, die das Weingut laut eigenen Angaben alle zehn Jahre einer aufwendigen Überprüfung unterzieht. Die dort lagernden Weine werden entkorkt, verkostet, nachgeschwefelt und mit dem gleichen Wein aufgefüllt. In der Regel opfert man dafür eine oder zwei Flaschen, um die restlichen wieder fit für die Zukunft zu machen. Schlussendlich bekommen die Weine einen frischen Korken und eine neue Kapsel.
Nachschwefeln: das künstliche Hüftgelenk der Weinwelt
Robert Haller hat zwar recht, wenn er “gesunde und physiologisch reife Trauben als das A und O für lagerfähige Weine“ hervorhebt. Es ist aber kaum von der Hand zu weisen, dass Umkorken und Nachschwefeln einen erheblichen, aber unerläßlichen Eingriff in das Leben des Weins darstellen. Man kann die Extra-Dosis Schwefeldioxid getrost als künstliches Hüftgelenk der Weinwelt betrachten. Meist beginnen Weißweine nach etwa 20 bis 30 Jahren einen charakteristischen Malzbonbon-Ton zu entwickeln, bei der Stein-Harfe war er nur einmal spürbar und das auch nur ganz dezent, beim 76er.
Diese Reinheit, diesen minzig-frischen Unterton, diese hell-orangene Farbe bei 40 bis 60 Jahre alten Weinen – das kannte ich bislang ausschließlich von Weinen aus Produzentenkellern. Was ich bislang auf dem Sekundärmarkt kaufte, stand nie so präzise im Glas wie die Silvaner aus dem Bürgerspital-Keller.