Auch heute, am letzten Tag der en primeur-Woche, kocht die Luft wieder. Am Nachmittag wird das Thermometer 31 Grad Celsius anzeigen. Doch die Weine, die auf Château Grand Puy Ducasse ausgeschenkt werden, sind perfekt temperiert. Mir wird klar, welch geniale Erfindung der Weinklimaschrank ist. Das Château liegt direkt neben dem Rathaus von Pauillac an der Uferstraße mit Blick auf die Gironde. Ich darf mich aber nicht ablenken lassen. 34 Weine müssen mit der gebotenen Konzentration probiert werden. Haut-Médoc, St-Julien, Pauillac, St-Estèphe, so heißen die Herkünfte.
Probe auf Château Calon Ségur
Es sind nicht die ersten Weine, die ich am heutigen Tag probiere. In der Früh war ich bereits auf Château Calon Ségur, wo dessen Weine zusammen mit denen von Meyney und Montrose zur Verkostung standen. Erstmals wurde auch der Wein von Capbern Gasqueton zur Probe angeboten. Das Château (der Güteklasse nach ein cru bourgeois) ist schon lange in Familienbesitz. Bisher wurde der Wein jedoch noch nie en primeur verkauft. Wenn die Preise raus sind, wird es sich lohnen, einen Blick auf die Angebotslisten zu werfen. Denn Capbern Gasqueton zeigt einen ähnlichen Stil wie Calon Ségur, wenngleich er natürlich nicht ganz das Volumen und die Tiefe eines Cru Classé erreicht.
Latour und Pichon Longueville
Der Lunch entfällt heute, da ab 14.30 Uhr die offizielle Abschiedsparty auf Château Haut Bages Libéral stattfindet. Im Gehen picke ich noch ein paar Käsewürfel auf, die die Gastgeber von Grand Puy Ducasse auf einem Teller bereitgestellt haben, und stärke mich mit Mineralwasser. Ich habe noch weitere Termine, möchte – wenn schon in Pauillac – unbedingt die Weine von Pichon Longueville (Baron), Latour und Pichon Lalande (Comtesse) probieren. Ein Trio mit sehr ungleichen Weinen. Keine Überraschung, wer in meiner Gunst vorn liegt: Der majestätische Latour überragt seine in 2010 etwas angestrengt wirkenden Nachbarn gleich um mehrere Güteklassen.
Im Labor von Léoville-Las-Cases
Einer meiner liebsten Termine während der Primeurwoche ist stets die Verkostung mit Bruno Rolland, dem Maitre de Chai auf Château Léoville-Las-Cases. Monsieur Rolland –meines Wissens nicht mit dem berühmten önologischen Berater Michel Rolland verwandt – geleitet mich zur Verkostung stets ins Labor des Weinguts. Dort geht es ohne rote Teppiche und ohne Chichi ganz allein um den Wein. Und mit den Schwester-Gütern Nenin (aus Pomerol) und Potensac (aus dem unteren Médoc) stehen immer vor dem Léoville-Trio schon einige attraktive Weine zur Probe an.
Pontet-Canet biodynamisch
Von St-Julien geht es noch einmal zurück nach Pauillac, zu Pontet-Canet. 2010 ist der erste Jahrgang, in dem sich das 5ième Cru zertifiziert “biodynamisch” nennen darf. Auf der gesamten Weinbergfläche von 80 Hektar befolgt die Mannschaft die zuweilen etwas schrägen Regeln Rudolf Steiners. 24 Hektar wurden sogar ausschließlich mit Pferden und ohne Traktor bearbeitet. Pferde wiegen weniger als ein Traktor und verdichten den Boden nicht. So kann sich ein vielfältigeres Bodenleben entwickeln. Nach den shake hands mit Alfred Tesseron, dem Besitzer, seiner Nichte Mélanie sowie dem Güterdirektor Jean-Michel Comme steigen wir in unsere Autos. Die Primeurwoche ist vorüber.
Mittelmaß gibt es kaum
Auf der Rückfahrt nach Bordeaux verzichte ich auf die Benutzung der Schnellstraße, sondern wähle die “Route des Châteaux”, um die Eindrücke der letzten Woche an mir vorüberziehen zu lassen. Nach 645 Weinen, die ich probiert habe, lautet mein Fazit: Die Weine sind entweder sehr gut oder ziemlich bescheiden. Mittelmaß gibt es in 2010 kaum. Und während meine Gedanken noch mit diesem wechselhaften, schillernden Jahrgang kreisen, werden meine Augen gewahr, dass links und rechts der Straße bereits der Jahrgang 2011 austreibt.