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Tagebuch der lustvollen Qualen (5): “Linkes Ufer beeindruckend”

Da ich schon früh unterwegs bin, komme ich ohne Staus aus der Stadt Bordeaux heraus, dafür bin ich fast eine halbe Stunde zu früh in Ludon, wo das Fassmuster von Château La Lagune auf mich wartet. Der Empfang auf dem Chateau ist indes schon besetzt, ich kann den Wein bereits probieren. Recht ordentlich, aber wirklich hingerissen bin ich nicht. Hoffentlich liegt das nicht daran, dass es erst zehn vor acht ist.

Die Blindprobe der Union des Grands Crus de Bordeaux (UGCB) findet in Listrac statt, im Château Fourcas Hosten. Auf dem Programm stehen die Weine des südlichen Médoc, also aus Moulis und Listrac, vor allem aber aus Margaux. Noch bevor ich nach Listrac fahre, will ich in Margaux die Weine derjenigen Châteaux probieren, die kein Mitglied der UGCB sind, zumindest die wichtigsten drei: Château Margaux überzeugt mich. Château Palmer beeindruckt mich sogar. Als ich Thomas Duroux, den Direktor auf Château Palmer, frage, ob er schon eine Idee zu den Preisen für 2010 habe, lächelt er freundlich und antwortet ebenso bestimmt wie trocken: Nein! Dann fängt er an, die Vorzüge des Jahrgangs aufzuzählen.

Thomas Duroux von Chateau PalmerEinen überzeugenden und einen beeindruckenden Wein habe ich auf meiner morgendlichen Tour also schon gefunden. Nun fehlt noch ein richtig begeisternder Wein. Den finde ich auf Château Boyd Cantenac. Dieser wenig bekannte 3ième Grand Cru Classé verdient seiner stilsicheren und verlässlichen Weine eigentlich wegen viel mehr Beachtung, als ihm außerhalb Frankreichs zuteil wird – nicht nur seines überaus moderaten Preises wegen.

Dann zu den UGCB-Weinen nach Listrac: Im Innenhof von Château Fourcas Hosten ist ein Zelt aufgebaut – dort stehen für uns Journalisten Verkostungsplätze bereitet. Originell, und zumindest bis etwa 12 Uhr auch angenehm kühl und luftig. Doch dann dreht die Sonne Aquitaniens mächtig auf, als wolle sie uns global warming am eigenen Leib erfahren lassen. 31 Grad Celsius misst das Thermometer um 13 Uhr, die letzten Weine stehen viel zu warm im Glas. Sind die Säuren hier nun wirklich so viel tiefer als zuvor, oder ist das nur die Wärme? Ich beschließe, den letzten flight mit dem ersten zu vergleichen, der bei Niederschrift meiner Probennotizen noch normal temperiert war. Und nun probieren sich auch die Weine der ersten Serie sehr viel weicher – also ist die Wärme Schuld. Logischerweise muss ich die Probennotizen des letzten flights umschreiben.

2010 Lafite-RothschildDerweil hat Michel Bettane, Herausgeber des Grand Guide des Vins de France, seine Verkostungsrunde schon abgeschlossen und schwatzt direkt hinter mir mit seinem Kompagnon Thierry Desseauve. Ohne Punkt und Komma!

Ich versuche, mich nicht ablenken zu lassen, schnappe aber dennoch Bettanes enthusiastisch herausgeschmetterte Bemerkung auf, noch nie habe er eine so homogen hochwertige Reihe aus Margaux probiert. Da diese Worte gewissermaßen in den öffentlichen Raum gesprochen wurden, gehe ich davon aus, dass auch ihre Publikation autorisiert ist.

Beim lunch sitze ich neben Toshio Matsuura, einem in Paris lebenden japanischen Journalisten, und zwischen Artischocken an Vinaigrette und Gänserillette frage ich ihn, was er aus Japan über den Zustand des dortigen Weinmarkts höre. Seine Mine verfinstert sich: Der Weinkonsum sei in den letzten Wochen bereits eingebrochen. Wie die diesjährige Primeurkampagne in Japan verlaufe, könne niemand vorhersagen. Er persönlich glaube, dass die japanische Wirtschaft ein ganzes Jahr benötigen werde, um sich zu erholen.

Der Nachmittag beginnt auf Château Ducru Beaucaillou in St-Julien, dann fahre ich weiter nach Pauillac, um Mouton-Rothschild und Lafite-Rothschild, schließlich auch Cos d’Estournel zu probieren. Da ich gut in der Zeit liege, kann ich mir noch einen Abstecher zu Château Pedesclaux erlauben – ein 5ième Cru Classé aus Pauillac, ebenfalls wenig bekannt, mit Weinen der etwas milderen Art, aber durchaus gut gemacht.

François-Xavier Borie von Grand Puy LacosteUm 17 Uhr treffe ich schließlich François-Xavier Borie auf Château Grand Puy Lacoste. Spätestens jetzt beginne ich die 2010er Weine des linken Ufers zu lieben: Schon der Zweitwein Lacoste Borie hat eine Frische, eine Mineralität und einen klassischen Zuschnitt, der das Herz aufgehen lässt. Das ist klassisches Bordeaux, mit einer wohldosierten zusätzlichen Prise Kraft, die ein Genuss ist. Natürlich setzt der Grand Vin noch einen drauf. Doch François-Xavier Borie will den Jahrgang nicht im allgemeinen loben: “Wir haben es geschafft, den Alkohol bei etwa 13,5 Volumenprozent zu halten. Aber heute Mittag war ein Journalist hier, der von den 14- oder 15-prozentigen Weinen geschwärmt hat. Dazu kann ich nur sagen: Mag sein, dass sich diese Weine gut entwickeln. Aber wir haben keine Erfahrungswerte, auf die man sich stützen könnte. Es gibt hier in Bordeaux einfach keine Referenz für dermaßen alkoholkräftige Weine.”

Ich verlasse den wohltuend klar denkenden François-Xavier Borie mit einem festen Händedruck und beginne die Rückfahrt nach Bordeaux, noch unterbrochen von Verkostungen beim Doppel-Château St-Pierre/Gloria in St-Julien, und bei Luc Thienpont, der in Margaux einen bemerkenswerten Wein namens “Clos des Quatre Vents” produziert: 80-jährige wurzelechte Reben, sehr interessant.

Als ich in den ersten Vorort Bordeaux’ gelange, werde ich meines Durstes gewahr – nach Wasser, versteht sich. Auch die letzte Mineralwasserflasche auf dem Beifahrersitz ist leer. Also fahre ich den Parkplatz eines dieser riesigen französischen Supermärkte an, in denen selbst das Mineralwasser-Regal mindestens dreißig Meter Länge einnimmt. Erst kann ich mich nicht entscheiden, ob ich zu Evian oder Contrex, zu Vittel oder Badoit greifen soll. Dann fällt mein Auge auf ein Produkt, wie es wohl nur in Frankreich verkäuflich ist: “Hépar” heißt dieses Wasser, nach dem griechischen Wort für “Leber”. Offenbar hilft die Mineralisation dieser Quelle dem Zentralorgan aller Weintrinker, Tage wie den heutigen zu überstehen. Ich kaufe ein Sixpack, und trinke den ersten Liter gleich auf dem Parkplatz.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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