Tagebuch der lustvollen Qualen (4): „Gute Weine sind sehr gut, aber…“

Weinjournalisten am Laptop
Am 4. Tag seiner Bordeaux-Verkostungen ist Ulrich Sautter in St. Emilion und findet das Niveau der Weine sehr hoch. Doch das Problem des Jahrgangs 2010 heißt Überextraktion. Man sieht es am Abend an den blauen Lippen und Zähnen der Verkoster: Die Farbe geht nicht mehr weg.

Um halb acht mache ich mich in Bor­deaux auf den Weg, um 9 Uhr möch­te ich auf Châ­teau Che­val blanc in St-Émilion sein. Eigent­lich sind andert­halb Stun­den für die­se Stre­cke viel zu groß­zü­gig gerech­net, aber dann brau­che ich für die drei, vier Kilo­me­ter vor dem Pont d’Aquitaine, der Brü­cke, über die sich der meis­te Ver­kehr aus der Stadt Bor­deaux her­aus ans rech­te Ufer der Giron­de quetscht, fast eine drei­vier­tel Stun­de. Ner­ven­zeh­ren­des Stop and Go.

Cheval Blanc von Fotografen belagert

Auf Che­val Blanc kom­me ich gera­de pünkt­lich um 9 Uhr an. Pierre Lur­ton, der Direk­tor von Che­val Blanc, gibt bereits ers­te Inter­views und lässt sich bereit­wil­lig foto­gra­fie­ren. Auch ein fran­zö­si­scher Profi-Fotograf ist unter den Gäs­ten und knipst alle asia­ti­schen Gäs­te. Dann fragt er sie, ob sie die Bil­der benö­ti­gen. Was für ein plum­pes Geschäfts­mo­dell! Einer der Ange­spro­che­nen riecht den Bra­ten und ent­geg­net halb ent­rüs­tet, halb amü­siert: “Ich bin kein Chi­ne­se, ich kom­me aus Südkorea”.

Bei der Pro­be der Wei­ne tref­fe ich Ales­san­dro Mas­na­ghet­ti, einen ita­lie­ni­schen Kol­le­gen. Zwi­schen Schlür­fen und Spu­cken und dem Ein­häm­mern auf unse­re Laptop-Tastaturen fra­ge ich ihn, wie ihm der Jahr­gang bis­lang gefällt. Er zuckt mit den Schul­tern: “Die guten Wei­ne sind sehr gut, die schlech­ten sind sehr schlecht”. Wei­se gesprochen.

Der Chinese ist überzeugt vom Jahrgang 2010

Die Premiers Crus von St-EmilionIch packe mein Bün­del und zie­he wei­ter aufs Châ­teau Beau­sé­jour Bécot, wo alle Pre­miers Crus Clas­sés aus St-Émilion zu ver­kos­ten sind. Die­se Pro­be ist jedes Jahr die best orga­ni­sier­te in ganz Bor­deaux. Die Wei­ne sind per­fekt tem­pe­riert, und sie wer­den in durch­num­me­rier­ten Glä­sern an den Tisch ser­viert. Wie üblich sieht man also die Eti­ket­ten nicht – aber die Per­fek­ti­on besteht dar­in, dass man auch die Fla­schen­for­men nicht zu Gesicht bekommt. Und das Niveau der Wei­ne ist die­ses Jahr sehr hoch, von zwei, drei plum­pen Wei­nen abge­se­hen. Auf dem Weg zurück zum Park­platz tref­fe ich Chi Sun Lau, der die wich­tigs­te Wein­zeit­schrift Hong Kongs her­aus­gibt. Er ist begeis­tert von den 2010ern: “viel bes­ser als 2009”. Das lässt für die Prei­se nichts Gutes erwarten.

Küchenduft im Probenraum

Mei­ne nächs­te Sta­ti­on ist Châ­teau Gazin in Pome­rol, wo die Blind­pro­be der Uni­on des Grands Crus statt­fin­det. 20 Wei­ne aus St-Émilion und acht aus Pome­rol sind in schwar­ze Blind­pro­ben­strümp­fe gehüllt, auf die ein Fra­ge­zei­chen auf­ge­druckt ist. Ori­gi­nell. Weni­ger ange­nehm ist, dass immer wie­der Duft­schwa­den aus der Küche in den Pro­ben­raum drin­gen. Das stört beim Ver­kos­ten. Außer­dem bekommt man Appetit.

Blindprobe in St-EmilionNach­dem ich mit allen Wei­nen zu Ende gekom­men bin, blei­ben noch zwan­zig Minu­ten Zeit vor mei­nem nächs­ten Ter­min, also genie­ße ich noch rasch ein Stück getrüf­fel­ten Kalbs­bra­ten. Und fra­ge bei die­ser Gele­gen­heit mei­nen Kol­le­gen Ch’ng Poh Tiong aus Sin­ga­pur, wie ihm der neue Jahr­gang gefällt. Er bricht in schal­len­des Geläch­ter aus, formt zwei Fäus­te und schlägt sie sich zum Spaß gegen die Backen.

Bes­ser kann man kaum aus­drü­cken, wie sich die­se Wei­ne auf uns Ver­kos­ter aus­wir­ken. Wobei man anfü­gen muss, dass die Qua­li­tä­ten auf Cru Classé-Niveau zum Teil wirk­lich attrak­tiv sind.

„Das größte Problem ist die Überextraktion“

Nach­dem ich etwas im Magen habe, bin ich gerüs­tet für mei­ne Nach­mit­tags­ter­mi­ne, und die fol­gen Schlag auf Schlag: Auf Canon-la-Gaffelière habe ich noch fünf Minu­ten Zeit, um mich mit Ste­phan Graf Neip­perg zu unter­hal­ten. Auch er nennt Über­ex­trak­ti­on als eines der Jahr­gangs­pro­ble­me. Sei­ne Flaggschiff-Weine Canon la Gaf­fe­liè­re und La Mond­ot­te sind von sol­chen Feh­lern ver­schont geblie­ben, sie sind mus­ter­gül­tig in ihrer Fein­heit. Dann geht es schon wei­ter zu Thu­ne­vin (Valand­aud), L’Arrosée, L’Angelus, und anschlie­ßend wie­der nach Pome­rol, und dort im Vier­tel­stun­den­takt zu Vieux Châ­teau Cer­tan, L’Evangile, Petrus und Laf­leur. Dann zurück nach St-Émilion, um auf Châ­teau Pavie die Wei­ne von Gérard Per­se zu probieren.

Pierre Lurton von Cheval BlancLast not least emp­fängt mich noch der lie­bens­wer­te Fran­çois Mit­ja­ville auf Châ­teau Tertre-Rôteboeuf. Mit die­sem ange­neh­men Gesprächs­part­ner ver­geht die Zeit sehr schnell. Doch ich muss die Dis­kus­sio­nen vor­zei­tig und so höf­lich wie mög­lich been­den, denn die Oper in Bor­deaux hat nur bis 21 Uhr geöff­net – dort wird der Wein von Châ­teau d’Yquem aus­ge­schenkt, der höchst klas­si­fi­zier­te und teu­ers­te Sau­t­er­nes. Zum Glück sind die Stra­ßen am Abend frei­er als am Morgen.

Lippen und Zähne nicht mehr sauber zu kriegen

Als ich ins Hotel zurück­keh­re und dort das Bade­zim­mer betre­te, erbli­cke ich im Spie­gel einen mir völ­lig unbe­kann­ten Men­schen. Einen Mann mit tief gefurch­ten Gesichts­zü­gen, mit schwar­zen Zäh­nen und gespens­tisch vio­let­ten Lip­pen. Offen­sicht­lich hat das Nach­spü­len mit Sau­t­er­nes nicht zur Auf­hel­lung der Zäh­ne bei­getra­gen. Und die Lip­pen sind wie gegerbt. Als sich beim Waschen, nein: Schrub­ben der Lip­pen klei­ne Haut­fetz­chen zu lösen begin­nen, die Far­be aber den­noch bleibt, beschlie­ße ich zu glau­ben, dass die Nacht das Pro­blem von sel­ber löst.

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