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Tagebuch der lustvollen Qualen (2): Auch Le Pin wird gespuckt

Der Arbeitstag beginnt um 9.30 Uhr auf Château Ausone – einem der beiden höchst klassifizierten Châteaux in St-Émilion. Bereits bei der Verkostung von Château Moulin St-Georges, das ebenfalls der Familie Vauthier gehört, wird der Klassenunterschied zu vielem deutlich, was ich am Tag zuvor probiert hatte. Hier sind die hohen Alkoholgrade mit so viel Extrakt gefüllt, dass sie im Geschmack nicht hervortreten. Der Wein von Ausone selbst wirkt etwas unscheinbar, und er hat bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein bisschen zu viel Holz abbekommen, zumindest für meinen Geschmack. Doch als ich schon wieder im Auto sitze und zur Hauptstraße hinunterrolle, hallen immer noch die Aromen dieses Weins in meinem Mund nach.

Ein Höhepunkt jagt an diesem Vormittag den anderen: Bei Jean-Pierre Moueix in Libourne gibt es wie immer ein gutes Dutzend Weine zu probieren. Auch wenn Pétrus inzwischen nicht mehr am Stammsitz des Handelshauses, sondern auf dem Château verkostet wird: Man muss die Uhr im Auge behalten, um sich nicht beim Vergleich der verschiedenen Pomerol-Größen zu verlieren: Latour-á-Pomerol, Lafleur Pétrus, Providence, Trotanoy. Eine superbe Kollektion.

Danach fahre ich zurück nach Pomerol: Ich habe Termine auf L’Eglise Clinet und bei Le Pin. Als ich den schmalen Weg auf Le Pin zufahre, zucke ich zusammen. Dort, wo früher Jacques Thienponts kleine, gut versteckte Butze stand, hat sich jetzt eine riesige Baustelle ausgebreitet. Ein großes Schild kündigt an, dass Château Le Pin hier ein neues Kellergebäude errichte. Die Verkostung findet in einem kleinen Keller in der Nachbarschaft statt, und ich bedaure sehr, auch dieses Verkostungsmuster ausspucken zu müssen, denn wahrscheinlich werde ich diesen Wein nicht so schnell wieder ins Glas bekommen. Bei schlappen 2000 Euro pro Flasche ist er leider nicht meine Preisklasse.

En Primeur-Probe Sauternes12 Uhr Mittag. Ich fahre noch schnell zum Maison du Vin in Pomerol, um ein paar der dort vorgestellten, kleineren Châteaux zu verkosten. Um 13 Uhr klappe ich mein Laptop zu. Um 14 Uhr beginnt die Blindprobe, die die Union des Grands Crus de Bordeaux für die Presse in Sauternes organisiert hat. Höchste Zeit, den etwa einstündigen Weg von Pomerol nach Sauternes einzuschlagen. Bevor ich mich auf den Weg mache, noch ein Zwischenstopp auf Château Soutard in St-Émilion. Zu meiner Überraschung ist die gesamte Kollektion von Michel Rolland im Chai des Weinguts zu probieren. Also verkoste ich auch noch die anderen Weine, profitiere im Vorübergehen vom Lunchbüffet, und mache mich mit einer guten halben Stunde Verspätung auf den Weg.

Als ich auf Château Guiraud in Sauternes eintreffe, bin ich nicht der einzige Nachzügler. Die Probe hier gehört zu den kürzeren, es gibt “nur” 25 Weine. Auch in Sauternes scheint der Jahrgang außergewöhnlich zu sein: Vor allem haben die Weine eine Säure, die man sonst in den Süßweinen des Bordelais so nicht findet. Zuweilen sind die Säuren richtig grasig – offenbar durch den Konzentrationsprozess, der auch unreife Beeren befällt. Allerdings gibt es auch einige hervorragende Weine, La Tour Blanche beispielsweise und Suduiraut.

Nachdem alle 25 Weine verkostet sind, spurte ich zur Kellerprobe auf Château Climens. Bérénice Lurton präsentiert während der en primeur-Woche niemals eine fertige Cuvée, sondern lässt die Presse die einzelnen Kelterungen probieren. Im Jahr 2010 waren es 19. Etwa die Hälfte davon probiere ich, gemeinsam mit dem englischen Kollegen Stephen Brook und einer russischen Journalistin, die kurz nach mir eintreffen. Unter den Kelterungen von Climens sind einige herausragende Lots, aber über die allgemeine Qualität des Jahrgangs gehen die Meinungen eher auseinander. Bérénice Lurton lobt den Sauternes-Jahrgang 2010 in den höchsten Tönen. Bedenken, die einzelnen Partien seien ungleichmäßig, lässt sie nicht gelten.

Baustelle Le PinSauternes ist auch am Abend Thema, beim Eröffnungsdiner der Union des Grands Crus auf Château Smith Haut Lafitte. Ja, es gebe schon ziemliche Kontroversen über diesen Jahrgang, bestätigt sie sehr nette Valérie Vialard, Önologin auf Château Latour-Martillac, neben der ich sitze. Die Trockenheit des Sommers habe die Reife verzögert, darum die hohen Säuregrade. Auch die Winzer seien sich uneins darüber, ob diese hohen Säuregrade wünschenswert seien.

Emotionaler Höhepunkt des Banketts mit über 200 Gästen ist die Begrüßungsrede der UGCB-Präsidentin Sylvie Cazes. Als sie den japanischen Journalisten für ihr Kommen dankt und alle Anwesenden bittet, sich als Zeichen der Solidarität mit dem japanischen Volk zu erheben, müssen viele Anwesende einen Kloss im Hals mit einem schnellen Schluck hinunterspülen.

Doch schon bald füllt sich der Saal wieder mit lautem Stimmengewirr. Ich komme in den Genuss eines überraschend frischen 2003ers von Château Cos Labory aus St-Estèphe, eines 2000er Latour-Martillac, eines 2000er Château Fonréaud sowie eines 2003er Château Haut-Bailly. Als das Dessert naht, verabschiede ich mich. Ich möchte unbedingt dem Chaos auf dem Parkplatz entgehen, das üblicherweise entsteht, wenn 200 Gäste gleichzeitig in ihre Wagen steigen.

Mein Navigationssystem führt mich sicher in die Stadt Bordeaux – dachte ich, bis ich nach etwa zehn Minuten Fahrt plötzlich vor einer Einbahnstraße stehe. In etwa dreihundert Metern Entfernung ist die Hauptstraße zu sehen, die zu meinem Hotel führt. Was tun? In meinem Gehirn kämpfen Müdigkeit, der getrunkene Rotwein und die Ordnungsliebe gegeneinander. Es siegen Müdigkeit und Risikoabwägung. Um halb zwölf nachts kann man in einem Vorort Bordeaux’ vielleicht einen Regelverstoß wagen, denke ich und gebe Gas. Als ich an der Einmündung in die Hauptstraße angekommen bin, kann ich unbemerkt abbiegen. Noch einmal gut gegangen. Fünf Minuten eher im Bett.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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