Frühere Lese ist für Derenoncourt keine Option, wenn es um die Erzeugung von Spitzenweinen geht. Die Erhöhung der Hektarerträge wäre ein Rückfall in alte Zeiten. Bleibt die Frage, wie der Alkoholgehalt sinken soll, wenn höchste Traubenqualität angestrebt wird. „Das Dilemma besteht darin, dass sich die physiologische Reife in aller Regel später einstellt als die Zuckerreife. Das heißt: Die Trauben müssen, nachdem sie schon genügend Zucker gesammelt haben, noch zehn, 14 oder mehr Tage am Rebstock hängen, damit das Tannin in den Beerenhäuten und in den Kernen ganz reif ist. In dieser Zeit entsteht jenes Zuviel an Zucker, das sich später in hohen Alkoholgehalten niederschlägt.“
Der Franzose legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass Weine mit 13,5 oder 14 Vol.% für ihn kein Problem darstellen, solange der Alkohol gut in den Wein eingebettet ist. Auch die meisten Weintrinker aus der Parker-Generation scheinen über den neuen, aus Bordeaux kommenden Stil nicht unglücklich zu sein. Der Weinhandel ebenfalls nicht. Und die Châteaux sehen sowieso keinen Grund zur Klage. Sie hatten schon lange vor Parker begonnen, ihre Qualitäts-Anstrengungen zu intensivieren.
Alles begann mit Professor Emile Peynaud
Die führende Rolle spielte in diesem Zusammenhang Emile Peynaud, Professor für Önologie an der Universität Bordeaux. Er hatte vielen Châteaux schon Anfang der siebziger Jahre, als Parker noch ein Jurastudent war und Wein nur vom Hörensagen kannte, geraten, weniger zu ernten und später zu lesen – also eine höhere Reife der Trauben anzustreben.
Außerdem führten auf seine Initiative hin viele Châteaux damals Zweitweine ein. Diese wurden (und werden noch heute) aus Trauben der jungen, unter 30jährigen Reben gekeltert, während die Trauben der ältesten Rebstöcke, die von Natur aus nur noch wenig tragen, für den Grand Vin reserviert sind, den besten Wein des Château. So ist zum Beispiel bei den Premiers Crus die Menge des Grand Vin im Vergleich zu früher deutlich zurückgegangen, weil ein großer Teil der Trauben in den Zweitwein geht. Die Qualität des Grand Vin stieg – mit ihr auch der Alkohol im Wein. Der Preis stieg sowieso.
Höhere Laubwände
„Alkohol war damals überhaupt kein Thema“, erinnert sich Derenoncourt. „Es ging nur um Qualität, also um perfekte Trauben. Während die Laubwand früher nur 80 Zentimeter hoch war, wurde sie jetzt auf 120 Zentimeter vergrößert. Mehr Laub bedeutet: mehr Photosynthese und somit mehr Zucker in den Trauben. Und später mehr Alkohol im Wein.“
All das führte nach damaliger und heutiger Einschätzung zu einem spektakulären Qualitätssprung in Bordeaux. Erkennbar schlug sich dieser erstmals 1982 nieder: ein Jahrgang, der so ganz anders war als das, was man bisher aus Bordeaux kannte: dunkel in der Farbe, weich und üppig am Gaumen, fast süßlich im Geschmack und deutlich erhöht im Alkohol.
Schuld war in diesem Fall weniger Peynaud als die Natur, die Bordeaux endlich mal wieder einen warmen, unverregneten Sommer geschenkt hatte. So, wie sich dieser Jahrgang präsentierte, gab er das Modell ab für jenen Stil, den die Châteaux unter Anleitung von Peynaud anstrebten – und der sich dann in der ganzen Welt ausbreitete.
1982er Bordeaux war der Modelljahrgang
Auch Parker gefielen die Weine dieses Jahrgangs besonders gut. Er lobte 1982 als „Jahrhundertjahrgang“ und empfahl die Weine dringend zum Kauf. Mit dem 1982er Jahrgang begann auch sein Aufstieg zum einflussreichsten Weinkritiker der Welt.
Vor den Veränderungen der 70er-Jahre war der Geschmack der Rotweintrinker ein ganz anderer. Man fand sich damit ab, dass die Weine eine feine Säure aufwiesen. Man störte sich nicht an etwaigen grünen Noten. Konzentrierte Weine kannte man nur aus Superjahren. Das gesamte Trink- und Kaufverhalten der Weintrinker war anders, erläutert Derenoncourt: „ Früher kaufte man eine Kiste Bordeaux und ließ sie zehn oder 20 Jahre liegen, um dann vorsichtig die erste Flasche zu öffnen. Heute kauft man eine Kiste und will sofort seinen Spaß haben. Diese Entwicklung ist durch Parker eingeleitet worden.“
Die Welt will Weine mit „Textur“
Die heutigen Rotweintrinker wollen Textur – auch so ein Parker-Ausdruck: Der Wein muss sich am Gaumen gut „anfühlen“, muss weich und harmonisch sein, sollte weder hartes Tannin noch eine merkbare Säure aufweisen, muss vielmehr Süße mitbringen, egal ob er aus Bordeaux, von der Rhône, aus dem Priorat, aus der Toskana, dem Piemont oder aus Südafrika kommt „Höherer Alkohol bedeutet mehr Glycerin, und Glycerin schmeckt süß“, erklärt Derenoncourt. „Von dieser vordergründigen Süße lassen sich viele Weintrinker verführen.“ Weintester übrigens auch.
Der Rotweinboom, der inzwischen auch jene Teile der Welt erfasst hat, in denen früher wenig oder gar kein Rotwein getrunken wurde, ist vermutlich auf den neuen Stil zurückzuführen. Er hat in der gesamten internationalen Önologie Einzug gehalten. Vom Opus One über Vega Sicilia, Ornellaia bis zum Grange – überall strebt man physiologisch vollreife Trauben an, um perfekte Weine zu bekommen. Der Aufwand, der dafür getrieben wird, ist enorm: gestaffelte Lese im Weinberg, mehrfaches Verlesen am Lesebrett, teilweise Sortieren der entrappten Beeren nach Reifezustand durch Infrarotscanner. Alles, was nicht ganz perfekt ist, wird aussortiert und geht in die Zweit- oder Drittweine. So ist es am Ende auch unerfahrenen Weintrinkern möglich, große Rotweine zu erschmecken und zu verstehen. Der Preis für diesen Qualitätswandel: höhere Alkoholgehalte.
Dealkoholisierung nur mit technischen Verfahren
„Im Weinberg kann man nichts machen, um die physiologische Reife zu beschleunigen“, zuckt Derononcourt mit den Schultern. „Wir können höchstens versuchen, das Ansteigen des Zuckers zu verlangsamen, indem wir die Reben punktuell entlauben. Aber viel bringt das nicht.“
Bleiben technische Verfahren, um dem Wein im Nachherein künstlich Alkohol zu entziehen. Die kalifornische und die australische Weinindustrie setzen teilweise Schleuderkegelkolonnen (spinning cone) ein, um flüchtige Bestandteile des Weins wie den Alkohol abzutrennen. Auf diese Weise kann der Alkoholgehalt um ein oder zwei Volumenprozent gesenkt werden. Doch das Verfahren ist teuer und umstritten. Überdies ist die „Fraktionierung“, wie der Fachausdruck lautet, in den Ländern der EU verboten. Erst Zucker im Weinberg zu produzieren und ihn dann dem Wein in Form von Alkohol wieder zu entziehen – das läuft der Idee des Weins als „Naturprodukts“ zuwider.
Restsüße Rotweine?
In Kalifornien kennt sich Derenoncourt übrigens gut aus. Er hat 2006 im Napa Valley einen Weinberg gekauft und erzeugt dort eine kleine Menge hochklassiger Rotweine aus Cabernet Sauvignon, Cabernet franc, Merlot und Syrah. Außerdem berät er seit 2008 den Filmproduzenten Francis Ford Coppola, vierfacher Oscar-Preisträger („Der Pate“) und Besitzer des Weinguts Rubicon Estate. Der potenzielle Alkoholgehalt von dessen Spitzenrotwein Rubicon weise oft 16 Vol.% auf. Der Wein enthalte aber teilweise acht Gramm unvergorenen Restzucker, verrät Derenoncourt. Dadurch liegt der Alkoholgehalt niedriger.
Soll Restsüße der Weg sein, um von den hohen Alkoholgehalten wegzukommen? Was bei lieblichen Moselrieslingen (die 90 Gramm Restzucker und nur 9,5 Vol.% Alkohol aufweisen) funktioniert, ist für Rotweine schwer vorstellbar. Die Amerikaner scheint die leichte Restsüße in Coppolas Top Cabernet dagegen nicht zu stören. Fachzeitschriften wie Wine Spectator und Wine Enthusiast belohnen den Rubicon mit Noten, die zwischen 92 und 95 Punkten liegen. „In Bordeaux dürfte sich der Rubicon wegen der Restsüße nicht einmal ‚Wein’ nennen“, stellt Derenoncourt fest.
Viele kalifornischen Cabernet Sauvignons und Merlot weisen nach der Gärung 16 Vol.% auf. Das ist selbst für Blockbuster-gestählte Amerikaner zu viel. Derenoncourt ist aufgefallen, das im Napa Valley auffällig viele Tanklaster unterwegs zu den Weingütern sind. Sie bringen Wasser zu den Weingütern. Wenn sie ihre Ladung gelöscht haben und zurückfahren, haben die Weine nur von 14 Vol.% Alkohol. Das Strecken des Weins mit Wasser ist in Kalifornien zwar verboten. Aber auch Top-Weingüter wissen nicht, wie sie anders von den hohen Alkoholgehalten runterkommen sollen.
Vielen Dank für den aufschlussreichen Artikel.
Wenn man allerdings Premiumweine aus Chile von vor 1990 probiert hat, welche “nur” 12,5% Alkohol aufwiesen und wenn man tolle Weine aus Bordeaux auch aus der Zeit probiert hat und damit nicht nur “Topjahrgänge”, sondern auch Jahrgänge, die eher mit gut bewertet wurden, dann stellt man fest, dass herausragende Qualität auch mit 12,5% problemlos erreicht werden kann.
In Südfrankreich hat sich in den letzten 20 Jahren ebenfalls ein Sprung von im Durchschnitt 12,5% auf 14% ergeben. Einige Winzer haben dazu auf Nachfrage geäussert, dass sie sich darum bemüht haben, den saftigen Überseeweinen stärker Konkurrenz zu machen. Sie haben dazu die Reben tiefer gezogen, so dass die Trauben auch Nachts durch die Bodenwärme reifen können. Auf diese Weise haben sie dafür gesorgt, dass der Zuckergehalt zum Zeitpunkt der phenolischen Reife deutlich höher ausfällt und der höhere Alkoholgrad erreicht werden kann.
Ich würde mich freuen, wenn Sie auf den Aspekt noch eingehen können.
MfG A. Mustermann
Hallo Herr Priewe,
zu Frühstücksweinen würde ich Weine aus früheren guten Jahrgängen sicher nicht degradieren.Ich fürchte auch viele bordelaiser Winzer nicht ! Aber die Alkoholgrade von 13% bis 13,5% sind sicher auch in Bordeaux Weinen aus Topjahren früher erzeug worden,nur stand dann auf dem Etikett freundlichere 12,5% Alkohol…
Aber wohin soll speziell der Weg am rechten Ufer führen,wenn eben nicht mehr 13% oder 13,5 % Alkohol im Wein sind , sondern sportlich auf dem Etikett abgedruckte 15%?? ( im Wein bestimmt nicht weniger…)
Selbst Vinum hat in der Bewertung des Cos vom linken Ufer mit 15% Alkohol zurückgerudert und
sich einer Bewertung enthalten ! Aber warum eigentlich nur beim Cos und nicht bei so vielen Gewächsen mit viel zu viel Alkohol?
Wenn die schreibende Zunft diese Weine als gross und 2009/10 als Jahrhundertjahrgang tituliert , werden weder die Winzer noch die Endverbraucher (alte Welt) etwas an den Verhältnissen ändern .
Schade eigentlich um die wahren Bordeauxfreunde , die wie oben schon geschrieben sich entweder mit überteuerten,konzentrierten und alkoholstarken neuen Jahrgängen herumschlagen müssen oder eben die heut gut zu trinkenden 82,85,89,90,95,96- ziger “Frühstücksweine” suchen müssen,gell?
Mit vinophilen Grüssen Uwe Böhm
Sehr geehrter Herr Derenoncourt,
vielen Dank für die Informationen die Sie den Wein-/Bordeauxtrinkern liefern.Ich habe die Erfahrung
germacht,dass die meisten Weine aus dem Bordelais erst ab Mitte bis Ende der 90ziger Jahre im
Alkoholgehalt gestiegen sind.Aber ganz massiv im letzten Jahrzehnt mit den beiden “Superjahren”
2009/10.Die Alkoholwerte der meisten Chateau lagen dabei über 14%,am rechten Ufer teilweise
deutlich darüber.Diese Weine haben von der eigentlichen Charakteristik des Bordeaux nur noch sehr
wenig gemein.Mag sein das auf der ganzen Welt (speziell Übersee) Weine mit mehr Alkohol gerne
getrunken werden.Der klassische Bordeaux hat aber auch vor dem Jahrgang 2000 grosse Weine
hervorgebracht,die deutlich weniger Alkohol und deutlich mehr Typizität mitbrachten.
Auch Herr Parker befand einige Weine aus 1982/1990/1996 ect..als 100 Punkte Weine,trotz weniger Alkohol.
Das Herr Parker mitschuldig ist an dem ganzen immer mehr Extrakt und damit Alkohol steht ausser Frage.Interessant ist trotzdem,dass es einzelne Chateaus auch in 2009 schafften mit nur 13% Alkohol ( auf dem Etikett ) auszukommen,während andere Weine in der Nachbarschaft locker 14,5% präsentierten.
Sicher auch um Herrn Parker “entgegen zukommen”,aber irgendwie muss es der Winzer “um die Ecke” ja auch geschafft haben.Wie geht das bei vergleichbarer Qualität ?? Da müsste angesetzt werden !!
Denn es gäbe gerade hier in Europa bestimmt genügend Menschen,die sich über ehrliche und klassisch produzierte Bordeauxweine freuen würde !
Gleiches gilt selbstverständlich auch für viele andere Regionen,wo die Alkoholwerte auch speziell in
den letzten Jahren massiv gestiegen sind.Mag sein das hier und da ein Umzug mit den Reben in kühlere Bereiche ( höher ) möglich ist,in Bordeaux muss es einen anderen Weg geben.
Vielleicht haben Sie die Sicht und die Möglichkeiten hier etwas zu erreichen.
Ansonsten haben unsere Weinfreunde in Übersee und Asien weiterhin viel Spass mit überalkoholisierten,süssen,überteuerten Bordeaux und der europäische Weinfreund trinkt etwas anderes oder muss sich um ältere Jahrgänge bemühen (übrigens immer noch zu günstigen Preisen).
Mit freundlichen Grüssen Uwe Böhm ( Berlin )
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