Stéphane Derenoncourt, 48, ist ein Autodidakt. Er stammt aus Dünkirchen im Norden Frankreichs. Sein Vater war Stahlarbeiter. Mit 19 trampte er nach Bordeaux und verdiente sich sein erstes Geld als Weinbergarbeiter. Danach ließ ihn der Wein nicht mehr los. Er ließ sich in Bordeaux nieder, arbeitete auf mehreren Châteaux, bildete sich weiter, ohne eine Universität zu besuchen. Anfang der neunziger Jahre wurde er Winemaker auf Château Pavie-Macquin in St. Emilion, später auf La Mondotte und anderen. 1999 gründete er eine Beratungsfirma, die zehn Önologen beschäftigt und über 60 Weingüter in aller Welt berät: in Chablis (Laroche), in Roussillon (Mas Amiel), an der Rhône (Rasteau), in der Toskana (Argentiera, La Massa), in Österreich (Esterhazy Wein), in Kalifornien (Rubicon Estate), vor allem aber in Bordeaux (Talbot, Prieuré Lichine, Domaine de Chevallier, Smith Haut Lafitte, Les Carmes Haut Brion u.a.) Daneben ist er Besitzer der Domaine de l’A in Côtes de Castillon. In Kalifornien produziert er mehrere Single Vineyard-Weine in Napa, Carneros und Lake County.
Andrew Black: Ist der Jahrgang 2011 wirklich so kompliziert und inhomogen, wie die Bordeaux-Winzer sagen?
Stéphane Derenoncourt: 2011 ist ein schwieriges Jahr. Es hat den Anschein, als hätten die Reben nicht begriffen, was das Wetter wollte. Im Frühling haben sie sich verhalten, als sei Sommer. Im Sommer haben sich die Reben vom Regen und vom feuchten Wetter regelrecht aus der Fassung bringen lassen.
Andrew Black: Ungleichmäßige Reife war das Hauptproblem?
Stéphane Derenoncourt: Um ganz ehrlich zu, ohne Lesebrett wird es in diesem Jahr keine guten Weine geben.
Andrew Black: Warum nicht?
Stéphane Derenoncourt: Es waren nicht nur die unreifen, grünen und die pinkfarbenen Beeren, die entfernt werden. Es mussten auch rosinierte, verschimmelte oder hagelgeschädigte Beeren herausgelesen werden.
Andrew Black: Wie schlimm waren die Botrytis-Attacken?
Stéphane Derenoncourt: Im besten Fall konnten wir die faulen Beeren am Lesebrett entfernen, im schlechtesten Fall musste der Lesetermin vorgezogen werden.
Andrew Black: Soweit die schlechten Nachrichten. Was für einen Wein werden jene Châteaux bekommen, die skrupulös verlesen haben?
Stéphane Derenoncourt: Schwierige Frage. Die Antwort fällt von Gegend zu Gegend verschieden aus. Es gab Fälle, in denen die Trauben vegetale Aromen aufwiesen oder verwässert waren. Diese mussten über das Lesebrett gehen. Im besten, oder besser gesagt: glücklichsten Fall werden wir Weine von guter Qualität bekommen.
Andrew Black: Wie wichtig war die Vinifikation in diesem Jahr?
Stéphane Derenoncourt: Ich wüsste nicht, dass der Jahrgang für einen bestimmten Typ von Vinifikation prädestiniert war. Jedes Château musste den Gärverlauf genau beobachten und nach den jeweiligen Erfordernissen steuern. Es gab keine Patentlösungen.
Andrew Black: Wie könnte man den Jahrgang 2011 in allgemeinen Worten charakterisieren?
Stéphane Derenoncourt: Der Jahrgang ist stark geprägt von dem feuchten atlantischen Klima. Die Weine haben weniger Struktur und eine geringere Reife als in den beiden Vorjahren. Kein exotischer, ein klassischer Jahrgang.
Andrew Black: Auch die Alkoholgrade sind niedriger als in 2009 und 2010?
Stéphane Derenoncourt: Die guten Merlot liegen nicht über 13,5 Vol.%, die Cabernets nicht über 12,5 Vol.%.
Andrew Black: Wie sieht es mit Farbe, Säure, Tannin aus?
Stéphane Derenoncourt: Die Farbausbeute ist insgesamt nicht schlecht. Auch die Säure ist Gottseidank nicht zu hoch. Das Tannin ist aber oft hart.
Andrew Black: Wie viele Tage nach dem Merlot wurden die Cabernets gelesen?
Stéphane Derenoncourt: Nur kurze Zeit später. Wir konnten die Cabernets nicht länger hängen lassen. Es schien, als seien sie durch die Leidensphase in den Vormonaten regelrecht traumatisiert worden.
Andrew Black: Wie würden Sie den Jahrgang 2011 zusammenfassen?
Stéphane Derenoncourt: In einem Wort: ungleichmäßig. Die gelungenen Weine sind fein und klassisch. Die anderen sind dünn, wieder andere aufgrund von mangelnder Reife grün.
Andrew Black: Welche Gebiete in Bordeaux waren am wenigsten von den Wetterkapriolen betroffen?
Stéphane Derenoncourt: Die Weine von den sandig-lehmigen Böden St. Emilions sind am besten geraten, aber auch die Weine von St. Julien.
Andrew Black: Und die Weißweine des Jahrgangs 2011?
Stéphane Derenoncourt: Die Weißweine sind generell ganz ordentlich geworden. Aufgrund des kürzeren Wachstumszyklus waren die Beeren durch den Regen weniger aufgebläht.