Der Spitzenwein heißt Il Carbonaione (ausgesprochen: Karbo-najòne) und war in den 90er Jahren einer der gesuchtesten Super Tuscans in Deutschland. Knapp ein Drittel dieses Weins wurde in Deutschland und in der Schweiz getrunken. Die Schweizer genießen ihn auch heute noch in vollen Zügen.
Bei deutschen Weintrinkern scheint er dagegen in Vergessenheit geraten zu sein. „Komisch“, findet Vittorio Fiore und schaut mich etwas ratlos an. „Trinkt ihr in Deutschland denn nur noch Weißwein?“
Vittorio Fiore – einer der Protagonisten der Toskana
Fiore ist Önologe, 74 Jahre alt und hat im Laufe seines Lebens Dutzende toskanische Weingüter beraten. Weingüter wie Conte Costanti, Vecchie Terre di Montefili, Terrabianca, Cusona, La Gerla haben auf seinen Rat gehört. Er war einer der Protagonisten der Renaissance des toskanischen Weins. 1991 hatte er im abgelegensten Teil des Chianti Classico ein kleines, verlassenes Weingut namens Poggio Scalette gekauft, wobei der Wunsch, die Schönheit der Natur zu genießen, genauso groß war wie der Wunsch, einen guten Wein zu erzeugen. Bekennt er.
Keine Spur von Toskana-Chic
Das Weingut befindet sich in Hinterland von Greve. Das Dörfchen heißt Ruffoli, liegt abseits aller Touristenpfade auf 450 Metern Höhe und besteht nur aus zwei Häusergruppen. Eine davon ist Poggio Scalette. Dort lebt Fiore seitdem mit seiner Frau und den drei erwachsenen Söhnen, inmitten von silbergrünen Olivenhainen, wilden Zypressen, roten Klatschmohnfeldern, alten Weinbergen und genießt den erhabenen Blick über die anmutige Hügelwelt des Chianti Classico. Im Laufe der folgenden Jahre hat er ein paar benachbarte Weinberge und Gebäude dazugekauft. Eine Show-Kellerei ist Poggio Scalette dennoch nicht geworden. Im Gegenteil: Die Türen knarzen, die Holzdecken biegen sich, die Fußböden bestehen aus abgewetzten Terracotta-Fliesen. Goldene Wasserhähne sucht man vergeblich. Poggio Scalette steht über dem Eingang in verblichener Schrift. Keine Spur von Florentiner Chic.
Besondere Spielart der Sangiovese
Der Glücksfall für die Fiores war der alte Weinberg neben dem Gut. Terrassiert und mit oberarmdicken, knotigen Sangiovese-Reben bestockt. Die ältesten waren um 1920 nach der Reblaus-Katastrophe gepflanzt worden. Bei genauerem Betrachten stellte sich heraus, dass es sich dabei um eine alte Sangiovese-Variante handelte, die dort wuchs. Sie ist als Sangiovese di Lamole bekannt und ähnelt genetisch mehr der hochwertigen Brunello-Spielart des Sangiovese Grosso als der im Chianti Classico beheimateten Sangiovese Piccolo.
Auch wenn diese Unterscheidung aus wissenschaftlicher Sicht längst obsolet ist, so erklärt es doch die Besonderheit des Il Carbonaione. Die Reben bringen nur wenige Trauben hervor, klein von der Form her und dickschaliger als andere Sangiovese-Varianten – prädestiniert für große Weine. Diese 90-jährigen Rebstöcke liefern bis heute den größten Teil des Stoffs, aus dem der Il Carbonaione gewonnen wird.
„Ein Sangiovese-Paradies“
Der Il Carbonaione ist einer der größten Sangiovese-Weine der Toskana. Er wächst im Anbaugebiet des Chianti Classico, kommt aber als Rosso Toscana auf den Markt – als simpler Landwein. Von einem Chianti Classico unterscheidet er sich deutlich: ist dunkler in der Farbe, süßer im Bouquet, weniger rau im Tannin und besitzt ein eigenes aromatisches Profil: vorne Veilchenduft, hinten Graphitnoten und leicht rauchig. Der Wein eines besonderen Terroirs: die Höhenlage mit dem kühlen Klima, die steinig-sandigen Böden, die eigene Sangiovese-Spielart und Vittorio Fiore, der alles orchestriert – seit Jahren schon zusammen mit seinem ältesten Sohn Jurij. „Ein Sangiovese-Paradies“, nennt dieser den Ort, an dem der Wein wächst.
Keiner trank mehr Il Carbonaione als die Deutschen
In den 90er Jahren, als die Toskana boomte und sich alles, was Rotwein trank, auf die Super Tuscans stürzte, war der Il Carbonaione einer der meist konsumierten Weine dieser Kategorie. Man fand ihn nicht nur auf den Weinkarten italienischer Restaurants. Auch Sterne-Restaurants mit internationaler Küche schmückten sich gern mit ihm. Deutschland war der wichtigste Absatzmarkt für den Wein. Zusammen mit der Schweiz wurden mehr als ein Drittel der 30.000 Flaschen, die von ihm produziert werden, hierzulande getrunken.
Dann wendeten sich die Deutschen von den Super Tuscans ab, nicht weil die Qualität schlechter wurde, sondern weil die Preise ständig stiegen. Ab einem bestimmten Punkt war der Gegenwert nicht mehr da – so jedenfalls empfanden es viele Toskana-Weinfreaks und suchten fortan ihr Glück in Spanien oder Südfrankreich.
Der Preis ist so bescheiden wie das Weingut
Ganz Unrecht hatten sie mit dem Preisargument nicht, wenn man bedenkt, in welche Stratosphären sich die Preise von berühmten Super Tuscans wie Le Pergole Torte und Tignanello seitdem geschraubt haben. Gelitten hat unter dem Liebesentzug aber auch der Il Carbonaione, obwohl sein Preis im Vergleich zu den Vorgenannten so bescheiden ist wie das Weingut selbst. Mit 36 bis 39 Euro kostet er die Hälfte. Und die Qualität ist gegenüber den ersten Jahren deutlich gestiegen.
Wollen die Deutschen keine toskanischen Rotweine mehr?
Ende September war Vittorio Fiore in München, um sieben Jahrgänge Il Carbonaione mit mir zu verkosten. Auch seinen ersten Jahrgang, den 1992er, hatte er mitgebracht. Außerdem wollte er von mir erfahren, ob die Deutschen von ihren großartigen Rieslingen so berauscht seien, dass sie die toskanischen Roten gar nicht mehr trinken wollen. Beantworten konnte ich ihm die Frage nicht, obwohl auch mich manchmal das Gefühl beschleicht, nur noch von Riesling-trunkenen Zeitgenossen umgeben zu sein. Zur Ehrenrettung des Rieslings muss ich hinzufügen, dass auch Fiore von der Dönnhoffschen Hermannshöhle, die wir im Restaurant La Galleria tranken, schwer begeistert war. Allerdings wussten wir, dass wir hinterher eine Flasche 2012er Il Carbonaione aufmachen würden. Zur Lammschulter mit Thymianjus schien uns der Riesling dann doch überfordert zu sein.
Am nächsten Tag verkosteten wir dann zusammen mit der Sommelière Paula Bosch und Elisabeth Morra-Bruno von Garibaldi am Marienplatz den Il Carbonaione. Ergebnis? Schauen Sie auf der nächsten Seite. Fiore beendete die Probe mit den Worten: „Ich glaube, der Jurij und ich haben einen anständigen Wein gemacht.“ Allerdings freue er sich jetzt auf das Bier im „Andechser“.
Die Weine
Der wohl eleganteste Carbonaione, der je gemacht wurde: Veilchen und Johannisbeeren im Bouquet, am Gaumen zartgliedrig, tanninfein, große Aromentiefe, vielleicht nur mittelgewichtig, doch punktgenau auf der Zunge landend, kein Blockbuster.
Bewertung: 94 Punkte
Typischer Wein aus einem trocken-warmen Jahrgang: reich, opulent, fast fett, viel Struktur, Massen von Tannin, vorherrschend dunkle Beerenfrüchte, dazu Tabak, Toast und ein Hauch von Trockenfrüchten, insgesamt noch etwas wild: kann vermutlich lange reifen, wird aber wohl am Ende nicht als einer der großen Jahrgänge dastehen.
Bewertung: 92-93 Punkte
Ebenfalls ein sehr warmer Jahrgang und jetzt, nach acht Jahren, ein Kandidat für den besten je gemachten Carbonaione: in sich ruhender, gesetzter Wein mit schwarzen Johannisbeeren, Lakritz, Trüffel und mineralischer Note im Hintergrund, lang, satt, süß mit fein verschmolzenem Tannin, allerdings leicht alkoholisch in der Nase – könnte trotzdem ein ganz großer werden.
Bewertung: 95 Punkte
Nicht übertrieben reicher, eher „klassischer“ Jahrgang mit viel schwarzen Früchten, Leder, Lakritz, dicht gewobenem Tannin und fester Struktur: nicht der sexieste aller Weine, aber doch sehr geschmeidig und burgundisch-fein. Potenzial noch nicht annähernd ausgeschöpft.
Bewertung: 92-93 Punkte
Beim ersten Schluck reich, üppig mit viel Johannisbeere und Kirschkompott, gut antrinkbar, beim zweiten Schluck jedoch Bittertöne mit leicht alkoholischer Note: vielleicht der kleinste aller verkosteten Jahrgänge.
Bewertung: 89 Punkte
Exotisch voll mit viel Gummi und Graphit, dazu würziger Wachholder und einige schokoladige Noten: ruhig und abgeklärt am Gaumen, facettenreich und tief, leidet gleichwohl unter der niedrigen Säure.
Bewertung: 92 Punkte
Für einen als miserabel eingestuften Jahrgang ein ganz erstaunlicher Wein mit viel Graphit, schwarzem Pfeffer, Resten von fruchtiger Frische, aber auch mit einigen unreifen, grünen Noten, eher schlank als zu dick geraten, trockener Abgang ohne jede malzige Alterssüße, trotzdem mit großem Genuss zu trinken (wenn man noch eine Flasche von dem Wein hat).
Bewertung: 91 Punkte