Kein Winzer spricht gerne über kellertechnische Korrekturmaßnahmen, auch nicht Christoph Tyrell, Riesling-Legende von der Ruwer und bekannt für seine stahligen und dennoch stets eleganten Weine.
“Die meisten nehmen das Wort ‚Entsäuern’ ja nicht in den Mund”, so Tyrell gegenüber weinkenner.de. “Aber ich spreche es aus, denn es ist ja kein Geheimnis, dass die Säuren des Jahrgangs 2010 sehr konzentriert waren. Selbst ältere Winzer können sich nicht erinnern, solche Säurewerte erlebt zu haben.“
In südeuropäischen Ländern ist das Entsäuern des Weins verboten. Sie ist allerdings auch nicht nötig, weil die Säuren wegen des wärmeren Klimas dort nie exzessiv hoch sind. Im kühlen Deutschland ist es jedoch gestattet, die Säure im Notfall zu kappen, um den Wein trinkbar zu machen. Früher wurde diese Maßnahme fast regelmäßig ergriffen. Durch die globale Erwärmung ist die Entsäuerung eher selten geworden. Unter qualitätsorientierten Winzern ist sie außerdem verpönt, weil sie einen Eingriff in den Wein darstellt. Auch Tyrell hat sorgfältig abgewägt, ob er diesen Eingriff durchführen soll oder nicht. Am Ende war für ihn klar: „Bei den trockenen Weinen war das Entsäuern ohne Alternative.”
Angewendet hat Tyrell, wie die meisten seiner Kollegen, die so genannte Doppelsalz-Entsäuerung. Bei diesem Verfahren wird eine Teilmenge des zu entsäuernden Mosts oder Weins in vorgelegtes Calciumkarbonat eingerührt. Löst sich der kohlensaure Kalk schnell genug, steigt der pH-Wert der Mischung so stark an, dass das erwünschte Doppelsalz auskristallisiert – wie Weinstein.
Vom gewöhnlichen Weinstein unterscheidet sich das Doppelsalz allerdings darin, dass es nicht nur die reife und daher willkommene Weinsäure, sondern auch die harte, aggressive Apfelsäure bindet – was den Wein am Ende milder schmecken lässt.
Die auf diesem Wege stark entsäuerte Teilmenge wird anschließend zur Ausgangsmenge zurückgegeben. In der Gesamtmenge an Most oder Wein ist auf diesem Weg eine Reduktion der Säure um gute 2 bis 3 Gramm pro Liter möglich.
Der Jahrgang 2010 stellte die Kellermeister aber noch vor ein weiteres Problem: Apfel- und Weinsäure werden bei der Doppelsalz-Entsäuerung immer zu gleichen Anteilen entfernt. Bei vielen 2010er Weinen lag der Anteil der (reiferen) Weinsäure jedoch extrem niedrig. Daher musste vielfach das so genannte Malitex-Verfahren zum Einsatz kommen: eine erweiterte Doppelsalz-Entsäuerung.
Dabei wird dem Wein (beziehungsweise dem Most) mit dem Calciumkarbonat eine Extramenge Weinsäure hinzugefügt, die durch den kohlensauren Kalk gleich kristallisiert und so wieder entfernt wird. Auf diese Weise wird die wenige natürliche Weinsäure „geschont“. Das Malitex-Verfahren ist weinrechtlich zulässig.
Befürworter der Entsäuerung im Most hingegen hoffen darauf, dass durch die zahlreichen Stoffwechselvorgänge während der alkoholischen Gärung die Strapazen, denen der entsäuerte Most ausgesetzt war, in ihren sensorischen Auswirkungen gemildert werden können. Matheus lässt auch diese Auffassung gelten, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass es bei kellertechnischen Eingriffen wie dem Entsäuern keine Wundermittel gebe: “Wichtig ist aus unserer Sicht vor allem, nichts überhastet zu tun”.
Diesen Ratschlag scheinen vor allem viele Fasswein-Winzer in 2010 nicht beherzigt zu haben. Von panikartigen Einsätzen der Vollernter im letzten Herbst ist zu hören, vor allem in den Flachlagen Rheinhessens und der Pfalz, und auch davon, dass die Moste wahllos mit Calciumcarbonat behandelt wurden, noch bevor überhaupt Analysewerte vorlagen. Für Weintrinker ist es deshalb unbedingt notwendig, in 2010 die Weine vor dem Kauft zu probieren und sich nicht blind auf Erfahrungen aus den vergangenen Jahren zu verlassen.
Angesichts der sehr ungewöhnlichen Traubenreife in 2010 spekulieren manche Winzer auch über Ursachen. “Obwohl die Säurewerte so hoch sind wie 1984 oder 1987, war die Reife der Trauben in 2010 viel besser”, hat beispielsweise Klaus Scherner vom Weingut Scherner-Kleinhanss im Rheinhessischen Flörsheim-Dalsheim festgestellt. “Die Temperaturen waren im Juli und August zu niedrig, als dass sich die Säure am Stock hätte abbauen können. Trotzdem ging das Ausreifen weiter. Und dann kam zum Ende des Herbstes der Konzentrationsprozess, der die Säure noch weiter verdichtet hat, aber zugleich auch die Oechsle zunehmen ließ. In der Folge haben wir sehr niedrige Erträge gehabt, beim Riesling nur 30 Hektoliter pro Hektar.”
Scherner bringt die Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull als möglichen Auslöser für den an Licht und Temperatur armen Spätsommer 2010 ins Gespräch.
Knipser verweist darauf, dass die pH-Werte bei weitem nicht so tief seien, wie es die relativ hohen Gesamtsäuren suggerieren. “Die Weine haben durch den Jahrgangstyp auch jede Menge Mineralstoffe und Extrakt absorbiert, die Säuren sind recht gut gepuffert.” Knipser spricht davon, bei einigen Weinen vielleicht nach der Filtration noch eine Feinentsäuerung mit Kalinat durchführen zu wollen – Folge dieser Behandlung ist ein normaler Weinsteinausfall und eine Absenkung der Gesamtsäure um etwa ein halbes Gramm pro Liter.
Doch gerade die Qualitätsspitzen des Jahrgangs findet er viel versprechend, auch ohne Entsäuerung: “Die Großen Gewächse bleiben sicher, wie sie sind – die werden spitze”.
Überrascht ist auch Uwe Matheus über die Qualität der 2010er Wirsching-Weine – nicht trotz, sondern wegen intelligenter Entsäuerung: „Wir hatten anfangs nicht geglaubt, noch so schöne Weine hinzukriegen.“
Auch Christoph Tyrell möchte den Stab nicht zu früh über den Jahrgang 2010 gebrochen sehen: “Gerade bei den fruchtsüßen Weinen sind die hohen Säuren gar kein Problem, im Gegenteil. Und vielleicht sind wir auch gar nicht immer gut beraten, auf die Wunschwerte eines Jahrgangs wie 2009 zu schielen. Ob die Säure nun bei 7,2 Promille oder bei 8 Promille liegt – das sind ja nur Zahlen.” Und er endet seine Ausführungen mit einem Stoßseufzer: “Wenn wir Deutschen nur nicht solche Analysetrinker wären!”