Primitivo heißt er, aber primitiv ist er nicht. Ein dunkelrubinroter Rotwein mit intensivem Fruchtaroma, milder Säure, im Idealfall konzentriert, relativ tanninarm, dafür umso alkoholreicher. Die besseren Exemplare weisen locker 14, 5 % Vol. Alkohol auf, die richtig guten gehen bis auf 17 Vol.% hoch. Geschuldet sind die hohen Alkoholgehalte vor allem der südlichen Herkunft. Die Primitivo-Traube (aus ihr wird der Wein zu mindestens 85 Prozent gewonnen, weshalb er auch nach ihr benannt ist) wird fast ausschließlich in der Region Apulien angebaut, am Stiefelabsatz Italiens. Ein feuriger Roter also, reich, aber nicht sonderlich komplex, gewonnen aus einer Rebe, die vor 200 oder 300 Jahren aus Dalmatien kam, dort Crljenak hieß, in Apulien Fuß fasste und Primitivo genannt wurde. Primitivo, weil ihre Trauben früher als alle anderen Rotweine gelesen wurde (Primus = der Erste).
Jens Priewe über die Karriere des Primitivo
„Biederes Landei, das über Nacht zum Model wurde“
Bis vor zehn Jahren fristete der Primitivo-Wein ein unscheinbares Dasein. Es gab ihn, aber die internationale Weinwelt nahm von ihm keine Notiz. So wie ein biederes Landei manchmal über Nacht zum gefragten Model wird, wurde auch der Primitivo plötzlich entdeckt. Warum gerade er? Einfach zu sagen: üppiger Körper, sanftes Wesen, leicht zugänglich und schön süß. Weil er wegen seines hohen Mostgewichts nicht immer ganz durchgärte, blieb häufig eine kleine oder größere Restsüße im Wein zurück. Alles zusammen – die Restsüße, der schokoladige Geschmack, die Tanninarmut – machten, dass er auch Menschen mundete, denen andere Rotweine normalerweise nicht schmecken.
Den apulischen Weingütern, vor allem den großen Genossenschaften, die in der Region noch immer den Ton angeben, blieb nicht lange verborgen, dass der Primitivo immer als erster ausverkauft war. Sie begannen daraufhin, die Produktion zu erhöhen. 17.000 Kilogramm Trauben pro Hektar durften (und dürfen bis heute) für den Primitivo mit der Herkunftsbezeichnung „Salento“ geerntet werden – fast doppelt so viel wie für den traditionellen Primitivo di Manduria, der theoretisch der feinere Wein ist, praktisch auch nicht (9.000 Kilogramm). Durch die erhöhte Traubenproduktion waren die neuen Primitivo-Weine weniger alkoholreich. Extraktsüße ging verloren. So drangen die Produzenten bei den Schutzkonsortien und diese bei der Regierung in Rom darauf, den zulässigen Restzuckergehalt zur Kompensation von 10 auf 20 Gramm pro Liter zu erhöhen. Sie wollten die Primitivo-Fans nicht enttäuschen. Mit Mühe konnte die Regierung die Produzenten auf 18 Gramm runterhandeln. „Lieblich“ oder „halbtrocken“ muss dennoch nicht auf dem Etikett dieser Weine stehen.

Den Primitivo-Boom vor Augen, entstanden bald die ersten Markenweine: Notte Rossa, Barone Mavelli, Don Cosimo zum Beispiel. In Supermärkten sind sie der Umsatzdreher. Aber auch renommierte Weinfachhändler wissen inzwischen, dass sie ihre Läden gar nicht mehr aufsperren brauchen, wenn sie keinen Primitivo anbieten und diesen nicht als „Top Wein“ titulieren, gewonnen aus einer „noblen Rebsorte“. Der größte Primitivo-Hit ist der Doppio Passo. Dieser Markenwein genießt Kultstatus. Kaum ein Supermarkt, in dem man ihn nicht findet. Die Trauben kommen aus Apulien, die Marke aber gehört den Sektkellerein Rotkäppche-Mumm aus Eltville am Rhein. Ihre Önologen bestimmen, wie der Wein zu schmecken hat. So wird ihm stets ein Anteil spät gelesener Primitivo-Trauben zugegeben, die für die Süße im Wein sorgen.
„Die Saudis haben Öl, wir den Primitivo“
So zitiert die apulische Tageszeitung Quottidiano di Puglia einen stolzen Lokalpolitiker. Und der Rohstoff wird schon knapp. Die Genossenschaften aus dem Salento können die benötigten Mengen an Wein nicht mehr liefern. Dafür springen die Genossen aus dem restlichen Apulien ein. Obwohl die Primitivo-Rebe dort traditionell nicht angebaut wird, kommen plötzlich große Mengen Wein von dort, deklariert als Primitivo di Puglia. Die Gesetzgebung macht es möglich. Mehr noch: Sie erlaubt dort sogar Traubenhöchsterträge von 22.000 Kilogramm pro Hektar – mehr noch als im Salento. Die Discounter Aldi und Lidl mit ihren Tausenden von Lebensmittelmärkten sind zwei der größten Nutznießer dieser Regelung.
Gibt es den traditionellen Primitivo überhaupt noch? Ja, aber nicht für 7,50 Euro. Antinoris „Torciacoda“ kostet das Doppelte, der „Orion“ der Masseria Li Veli knapp das Dreifache, Fellines Lagen-Primitivo „Dunico“ das Vierfache. Der mit Abstand beste Primitivo Apuliens kostet sogar 49 Euro die Flasche: der „Es“ von Gianfranco Fino. Ein Primitivo di Manduria, gewachsen auf weißem Kalkstein, uralte Rebstöcke, nur 1000 Kilogramm Trauben pro Hektar, in neuen Barriques ausgebaut, unter 1 Gramm Restzucker. Ein Erlebnis, dieser Wein. Aber nichts für Leute, deren Geschmackssozialisation bei Kinderschokolade stehengeblieben ist.
Romana Echensperger MW: Infantiler Geschmack
Derzeit ist der rote Primitivo aus Süditalien der Renner. Eine Rebsorte, die selbst bei hohen Erträgen noch dunkelfarbene Weine mit reifer Kirschfrucht sowie Aromen von Vanille, Schokolade und Spekulatius liefert, die – das ist meine Meinung – den infantilen Massengeschmack anspricht.
Die Rebanlagen stehen meist in Flachlagen, die sich bequem maschinell bewirtschaften lassen. Das heiße Klima lässt die Trauben stressfrei ausreifen. Dort kann man zuverlässig große Mengen an Trauben erzeugen, die mit allen Mitteln der Kellertechnik geschmacklich zugerichtet werden können. Betriebswirtschaftlich ist die Verbindung von Rebsorte und Region ein Traum. Wenn man so will: Terroir oeconomicus.
Primitivo trifft den breiten Publikumsgeschmack. Er schmeckt süß. Das gaukelt Körper vor, wo aufgrund der hohen Erntemengen längst keiner mehr ist. Die Süße sorgt auch dafür, dass die wenigen verirrten Gerbstoffe ohne zu stören über die Zunge laufen. Dem Konsumenten werden locker 18 Gramm Restzucker untergejubelt. Ihm ist nur wichtig, dass nicht „lieblich“ beziehungsweise der italienische Ausdruck „amabile“ auf dem Etikett steht. Schließlich will man ja als „Trockentrinker“ gelten. Die extrem gekochten Aromen lassen oft jede Frische vermissen. Plakative Holzaromen dürfen auch nicht fehlen. Weil die Weine aus Kostengründen nicht in teuren, neuen Holzfässern ausgebaut werden können, nimmt man Eichenchips. Am besten aus amerikanischer Eiche. Die sind noch günstiger und liefern den noch infantileren Geschmack. Nesquick, Nutella und Kokosnuss à la Bounty lassen grüßen.
Eines muss man den Italienern lassen: Sie haben es geschafft, einen Kultwein zu lancieren, der gnadenlos gut zum Zeitgeist passt. Primitivo folgt dem Wohlfühldogma unserer Zeit. Er passt zur Yoga-geschwängerten Kulturlosigkeit, zu den oberflächlichen und selbstoptimierten Duckface-Selfies, zum bequem Bestellen per Mouseklick. Alles muss immer und jederzeit verfügbar und ohne Anstrengung zu bekommen sein.
Schluss mit dem Lamentieren. Mir fällt Konrad Adenauer ein, der erste deutsche Bundeskanzler. Er sagte mal: „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt’s nicht.“
Was ich verkostet habe:

Romana Echensperger MW stammt aus Oberbayern, hat aber als Sommelière und Weinexpertin die ganze Welt bereist. Sie war Chef-Sommelière unter anderem im ***Restaurant „Vendome“ des Schlosshotel Bensberg. Ausserdem hat sie Praktika auf Weingütern in der Toskana und im Rheingau absolviert. 2015 hat sie den begehrten Titel Master of Wine erworben. Romana beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit dem Thema biodynamischer Weinbau. Im Jahr 2020 ist in diesem Zug Ihr Buch „Von der Freiheit den richtigen Wein zu machen“ im Westend Verlag erschienen. Darin porträtiert Sie das biodynamische Winzerhandwerk. In der Weinszene wird das Buch unter anderem als Standard-Werk gelobt. Sie lebt mit ihrer Familie bei München.
Infantiler Massengeschmack.
Was für eine Hybris von jemandem, die ihren Lebensunterhalt mit weinen verdient.
Ich nehme an, Sie hören auch nur Beethoven und Brahms und das Radio im Auto bleibt sonst aus…
Nur einfachste Massenware probieren und dann über eine Rebsorte urteilen. Mir schmecken die Weine, die Sie da verkostet haben, auch nicht. Aber ich weiß, es gibt auch interessante Primitivo. Und ich stehe zu meinem infantilen Massengeschmack.
Manduria ist übrigens ein Teil vom Salento und die guten Lagen dort liegen nahe dem Meer und sind eher kühler. Nur, um ein paar Details klar zu stellen. Die Aussage “heißes Klima” kann nur jemand von sich geben, der die Gegend nicht kennt und die Karte nicht lesen kann. Das Salento ist gar nicht so weit im Süden, wie die Karte suggeriert, wenn man sich nur den italienischen Stiefel ansieht. Das Salento ist kühler, wie viele Ecken in der Toskana. Mit dem stressfrei ausreifen, hat es beispielsweise 2018 so gar nicht funktioniert. Die Winzer mussten mit dem zweiten Arschjahr nach 2014 in diesem Jahrzehnt klar kommen.
Ich lade Sie gerne mal auf eine Primitivo-Verkostung ein. Von einem ordentlichen Alltagswein, über ein paar gelungene Sofa-Weine, bis zu den Highend-Primitivo von Gianfranco Fino, Polvanera und Schola Sarmenti. Hier meine aktuelle Primitivo Top-10: https://www.vipino-wein.de/aktuelles/primitivo-week/primitivo-top-10/
Danke für den interessanten Bericht:
Und: ich dachte, ich wäre bei den in Mode gekommenen Süd-Weinen, auch Nero Dàvola, allein.