Lieber Heiner,
Du hast in dem Blog auf Deiner Website neulich ein heikles Thema angeschnitten: „Weinbewerter: Qualität und Konstanz“. Viel von dem, was Du da schreibst, ist richtig, einiges ungerecht und in einem Punkt irrst Du. Das wichtigste Thema in diesem Zusammenhang aber schneidest Du gar nicht an: dass nämlich Weinbewertungen häufig irreführend und oft auch schwachsinnig sind, selbst wenn sie von kompetenten Leuten kommen.
Irreführend, weil sie dem Leser wenig helfen, in dem Ozean der Weine, der sich vor ihm auftut, die richtige Wahl zu treffen. Und schwachsinnig, weil sie meist mehr über den Bewerter als über den Wein aussagen. Du wirst vermutlich anderer Meinung sein. Aber da Du gemeinhin das Herz auf der Zunge trägst, will ich es hier auch mal tun.
Weinkritik ist so wichtig wie Theater- oder Kunstkritik
Zunächst muss ich präzisieren: Weinbewertungen sind natürlich weder Schwachsinn noch Irreführung. Sie sind wichtig. So wichtig wie Theaterkritiken, Buchrezensionen, Kunstkritiken. Schwachsinnig und irreführend sind die Punktbewertungen – zumindest dann, wenn man sie ernst nimmt. Aber das tun ja die meisten Weintrinker, sonst würden Parker und seine Sub-Tester nicht einen so großen Einfluss haben. Und die Weinhändler erst recht. Sie lassen keine Gelegenheit verstreichen, die Bewertungen der Kritiker aufzuführen und mit ihnen auf Kundenfang zu gehen.
Ja, einige Weinhändler verbiegen sich geradezu, um die passenden Punktwertungen in ihre Kataloge und Websites einzubauen. Wenn die Parker-Punkte nicht passen, drucken sie die Wertungen irgendwelcher Wald- und Wiesenkritiker ab. Manche Weinhändler halten sich sogar eigene Weinkritiker. Sie zahlen ihnen ein monatliches Salär dafür, dass diese die Weine ihres Sortiments hochpunkten oder schönreden. Viele dieser Lohnschreiber schmücken sich übrigens mit Titeln wie „Weinakademiker“ oder „diplomierter Sommelier“.
Du weißt vermutlich, von wem ich rede. Eigentlich taugt der Ausdruck „Schwachsinn“ gar nicht für das, was da passiert. Es ist kühl kalkulierter Betrug am Kunden. Oder genauer: Es wäre Betrug, wenn nicht jeder frei wäre, sich eine eigene Meinung zu einem Wein zu bilden und diese unters Volk zu bringen, auch wenn sie mit Geld (oder flüssigen Naturalien) erkauft wurde. Ich finde, das hättest Du ruhig einmal erwähnen können.
Nun unternimmst Du in Deinem Blog-Beitrag ja gerade den Versuch, die Spreu vom Weizen zu trennen. Zur Spreu gehören neben den gekauften sicher auch die ehrlichen, aber dilettantischen Kritiker, die Weine beurteilen ohne Hintergrundwissen, ohne Vergleichsmöglichkeiten, ohne die Benchmarkweine zu kennen. Ich will Deine Meinung über die Kritiker/Publikationen, die Du vorgenommen hast, nicht kommentieren, auch nicht die (schmeichelhafte) Einschätzung meines Weinverstands. Nur so viel: Auch ich bepunkte gelegentlich Weine und habe schon Urteile gefällt, für die ich mich im Nachherein schäme. Oder über die ich schmunzeln muss.
Vorsicht vor hohen Punktzahlen
Mich beschäftigt vielmehr die Frage, was meine Urteile für Folgen haben, wenn sie richtig sind (oder waren). Häufig bin ich schon von Besuchern dieser Website angemailt worden, die mir mitteilen, dass sie einen von mir hoch bewerteten Wein gekauft hätten und tief enttäuscht waren. Ich muss ihnen dann wortreich erklären, dass eine hohe Bewertung keine Aufforderung zum Kauf ist. Jeder hat seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Vorlieben, und Wein ist unendlich (in seiner Vielfalt). Der Verkoster kann, wenn er den Überblick hat, nur beurteilen, was gut und was weniger gut ist. Aber er weiß nicht, ob das Gute dem Leser schmeckt.
Nur ein Beispiel: Ich hatte neulich Chianti Classico Annata zu bewerten, also die jungen, mehr frucht- als tanninbetonten Weine aus der Toskana. Sie sind trinkfreundlich, relativ unkompliziert, preiswert und machen rund 70 Prozent der Produktion aus. Den besseren Vertretern dieser Kategorie habe ich 87, 88 oder 89 Punkte zugestanden. Es gibt aber auch Annata-Weine, die fast schon eine kleine Riserva sind. Haben mehr Struktur, mehr Komplexität, sind langlebiger: alles Punkte, die zählen. Streng genommen, sind sie wertiger. Also habe ich ihnen 90 und 91 Punkte gegeben. Würden sich Leser, die eine gute Annata suchen, an meinen Punkten orientieren, hätte ich sie auf eine falsche Fährte gelockt. Also habe ich sie vor meinen hohen Bewertungen gewarnt, damit sie keinen Wein kaufen, den sie vielleicht gar nicht mögen. Logisch im System, absurd im Resultat.
Die Kunden wollen nicht Dich kaufen, sondern Deinen Wein
Soviel zum Thema Irreführung. Jetzt komme ich, lieber Heiner, zu einem Punkt, bei dem Du nach meiner Meinung irrst. Die Aufgabe des Verkosters ist es, einen Wein möglichst objektiv zu beschreiben. Dazu braucht man seinen Kopf, nicht den Bauch. Klingt intellektuell. Aber jeder, der testet (egal ob Käse oder Kühlschränke) hat ein Koordinatensystem im Kopf, in das er die Weine einordnet. Dieses Koordinatensystem hat nichts mit guter Nase oder guter Zunge zu tun. Wir müssen es uns erarbeiten. Wer nicht weiß, was der Unterschied zwischen linkem und rechtem Ufer ist in Bordeaux und wie sich die Weine unterscheiden, wird zwar ein Urteil fällen können, aber ein sinnloses. Es hat keine Aussagekraft und interessiert niemanden. Du sagst, Du würdest mit Herz und Bauch urteilen. Ich behaupte: Das tust Du nicht. Würdest Du es tun, sagten die Punkte, die Du vergibst, nur etwas über Dich aus, über Deinen Geschmack, Deine Begeisterungsfähigkeit.
Deine Kunden wollen aber nicht Dich kaufen, sondern einen Wein aus Deinem Sortiment. Und die sind ja nicht so doof zu meinen, dass, was Lobenberg schmeckt, auch ihnen schmeckt. Sicher, Du hast Deine Fangemeinde. Die weiß genau, dass Du Dich durch alles durchtrinkst, wo Wein draufsteht. Und das seit Jahren. Dass Du Deine Winzer regelmäßig besuchst, immer ein bisschen zu hoch punktest und Dich gern in blumigen Weinbeschreibungen ergehst, die nichtssagend, aber lustig zu lesen sind. Die Fangemeinde weiß aber auch, dass Du in Wirklichkeit ein Koordinatensystem im Kopf hast, mit dem Du an die Weine herangehst und sie einordnest. Es ist Dir wahrscheinlich schon so weit in Fleisch und Blut übergegangen, dass Du meinst, es sei Bauchgefühl.
Worauf will ich hinaus mit dieser Aussage?
Dass kein ernst zu nehmender Weinkritiker mit dem Bauch urteilt. Alle benutzen ihren Verstand (selbst Parker und Du).
Zweitens: Dass Punktbewertungen selten dazu führen, dass einer „seinen“ Wein findet.
Drittens: dass Punktbewertungen durchaus einen gewissen Unterhaltungswert haben können. Das ist ja schon mal was in der ansonsten bierernsten Welt des Weins.