Die Flaschen liegen lieblos in Gitterboxen, irgendwo zwischen Wintersocken, Frischhaltefolie und Kartons mit H-Milch. Das orangefarbene Preisschild klebt quer über dem Etikett. So präsentiert, sieht der Wein aus wie Ware, die vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums noch schnell abgestoßen werden muss.
Irrtum. Diese Ware könnte durchaus noch ein paar Jahre liegen. Bis Weihnachten hält sie allemal. Leider ahnt das niemand, der an den Gitterboxen vorbeischlendert. Schade. Wer knapp bei Kasse ist, sich aber trotzdem mal den Luxus eines guten Rotweins gönnen möchte, verpasst etwas.
Aus purer Neugier gekauft
Jawohl guter Rotwein! Ich schäme mich dieses Urteils nicht. Zumindest nicht für zwei der drei Weine, die ich gestern aus purer Neugier gekauft habe: den 2010er Chateau Haut-Bardin aus Bordeaux für 4,99 Euro und den 2009 Barbaresco aus dem Piemont für 5,99 Euro. Zum dritten Wein sage ich weiter unten noch etwas.
Am besten ist der Bordeaux: ein einfacher AC-Wein, wie er millionenfach angeboten wird, ab 1,99 Euro aufwärts. Doch im Gegensatz zu diesen armseligen Tröpfchen, die mal wie zu stark verdünnter Johannisbeersirup, mal wie eine Cuvée aus Hustensaft und Bratensauce schmecken, ist der Haut-Bardin ein anspruchsvoller Wein. Er läuft samtig über den Gaumen und klingt lange auf der Zunge nach.
2010 war ein fantastischer Jahrgang
Sicher, 2010 war ein fantastischer Jahrgang in Bordeaux, der dichte, extraktreiche Weine hervorgebracht hat, denen zu Recht ein langes Leben vorausgesagt wird. Auch der Haut-Bardin (70 Prozent Merlot, der Rest Cabernet Sauvignon und Cabernet franc) ist eigentlich noch viel zu jung zum Trinken.
Im Bouquet erinnert er eher an bitteren Kakao als an süße Brombeere oder Schwarze Johannisbeere. Dennoch ist er schon mit Vergnügen genießbar. Ich würde ihn am liebsten zu einem reifen Camembert oder zu einem Gulasch aus Rehfleisch genießen.
Normalerweise kostet er über 50 Prozent mehr
Auf jeden Fall ist dieser Wein wesentlich besser als die 4,99 Euro, zu dem Norma ihn ausgepreist hat, vermuten lassen. Zweifeln Sie, liebe Leser? Dann sage ich Ihnen, dass der Haut-Bardin bis vor Kurzem beim Hamburger Weinversender Hawesko im Angebot war. Preis: 7,99 Euro. „Ausverkauft“ steht jetzt auf der Hawesko-Website. Die Norma-Einkäufer haben die Restbestände dankbar übernommen.
Übrigens hatte ich den Haut-Bardin nur deshalb ausgesucht, weil die Flaschen eine Halsmanschette tragen, auf der steht, dass der Guide Hachette diesen Wein aus dem Riesenangebot von Bordeaux „selektiert“ hat. Der Guide Hachette ist ein ebenso populärer wie renommierter französischer Weinführer. Normalerweise gebe ich keinen Pfifferling auf Empfehlungen von Weinführern. Aber diesmal scheinen die Tester die richtige Nase gehabt zu haben.
Ein Barbaresco mit Silbermedaille vom Decanter
Der zweite Wein, der in meinen Einkaufswagen wanderte, war ein 2009er Barbaresco aus der norditalienischen Region Piemont. Er war mit einer Silbermedaille beklebt, gewonnen beim Wettbewerb der englischen Weinfachzeitschrift Decanter. Ich kenne die Zeitschrift und den Wettbewerb. Medaillen werden dort inflationär vergeben. Doch dieser Barbaresco hatte seine Silbermedaille ausnahmsweise verdient: ein mehr als ordentlicher Wein, ausgestattet mit dem typisch „modrig-dekadenten“ Bouquet, das ein bisschen an süße Kirschkaltschale, ein bisschen an Möbelpolitur erinnert, dazu ein feines Gerbstoffgerüst mitbringt, das es erlaubt, den Wein auch jetzt schon anzutrinken und Spaß dabei zu haben. Sicher kein großer Barbaresco, aber als Einstieg in die Welt der Nebbiolo-Weine gut geeignet – für 5,99 Euro allemal.
Wie es möglich ist, einen ordentlichen Wein zu einem so obszön-niedrigen Preis anzubieten? Die Antwort heißt Weinkrise. Ähnlich wie in Bordeaux herrscht auch im Piemont ein Überangebot an hochklassigen Weinen, besonders an Barbaresco.
Während die Preise der Spitzen-Barbaresco von 35 bis 95 Euro reichen, werden die Übermengen von großen Handelskellereien für unter zwei Euro pro Liter im Fass aufgekauft und unter Fantasienamen abgefüllt. Conti Speroni ist so ein Name. In den USA wird der Conti Speroni-Barbaresco übrigens für 15 Dollar verkauft.
Opulenter spanischer Toro
Der dritte Wein, den ich bei Norma erstand, kommt aus Spanien. Genauer gesagt: Aus dem kleinen Anbaugebiet Toro, das an die (berühmtere) Ribeira del Duero angrenzt und dunkelfarbene, konzentrierte Rotweine hervorbringt, die sich vor allem durch ihre Üppigkeit auszeichnen. Sie werden aus der Tempranillo-Spielart Tinta de Toro gewonnen. Die besten stehen bei Weinkennern hoch im Kurs. Bis zu 150 Euro kosten sie pro Flasche.
In dieser Liga spielt der Norma-Toro natürlich nicht. Dafür kostet er auch nur bescheidene 4,99 Euro. Die Farbe ist dunkelrot, das Bouquet herrlich fruchtig mit Noten von Süßkirschen und Pflaumen, dazu Bodenkrume, getrocknete Tabakblätter, geröstete Gerste.
Aber er ist auch ein opulenter, weicher Wein, der aus einem Glas mit großem Kelch getrunken werden sollte und zu jeder Art von Braten passt, der Weihnachten auf den Tisch kommt. Ich würde Lamm wählen. Aber sollte nur eine Tiefkühlpizza im Haus sein, würde ich die Flasche trotzdem aufmachen.
Punkte zählen nicht
Diesen Wein habe ich gekauft, obwohl auf der Halskrause steht: 90 Punkte Parker. Inzwischen ist ja erwiesen, dass Parkers Spanien-Punkte durch einen für Geldgeschenke anfälligen Mitarbeiter erkauft worden sind. Mit 86 von 100 Punkten halte ich diesen Toro für angemessen benotet. Ich würde ihm vielleicht sogar noch zwei Punkte mehr geben, wenn er nicht durch seinen extrem hohen Alkohol auffiele. 15 Vol.% stehen auf dem Etikett. Berücksichtigt man die gesetzliche Toleranz von 0,5 Vol.%, kann man sich ausrechnen, dass er in Wirklichkeit 15,5 Vol.% Alkohol aufweist. Wärmend ist er also auf jeden Fall. Man weiß ja nicht, ob es Weihnachten kalt wird.