„Die Vorschusslorbeeren waren wieder einmal überschwänglich…“, so beginnt der Kommentar, den Philipp Schwander am 1. Mai in der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung über den Bordeaux-Jahrgang 2010 veröffentlicht hat.
Der erste Satz deutet bereits an, dass Schwander, erster und bislang einziger Master of Wine der Schweiz, mit den hochfliegenden Bewertungen und den kritiklosen Jubelarien, wie sie dem neuen Jahrgang entgegen gebracht werden, nicht ganz einverstanden ist. Sicher, auch er hat in 2010 großartige Weine getrunken. Aber seine Sichtweise auf den Jahrgang ist differenzierter als die seiner Kollegen.
Mehr als nur ein Verkoster
Vor allem hat Schwander den meisten Weinkritikern eines voraus: Er degustiert nicht nur, er führt auch intensive Gespräche mit den Chateaubesitzern und Weinbergs-Verantwortlichen. Auf diese Weise erhält er ein Bild, das weit über das sensorische Examen der betreffenden Weine hinausgeht. Es erlaubt ihm Prognosen darüber, wie sich die Weine in den nächsten Jahren entwickeln werden.
Jean-Claude Berrouet, der ehemalige Direktor von Pétrus, gab ihm gegenüber zum Beispiel freimütig zu, dass die 2010er Weine zwar „sehr hohe Öchslegrade“ aufweisen, aber „nicht immer die gewünschte Reife erzielen konnten und die Traubenkerne unreif blieben“.
Pascal Baratié, Chef de Culture der Haut-Brion-Domänen, räumte ein, „dass bereits sehr hohe Zuckerwerte erzielt wurden, bevor die physiologische Reife einsetzte“. Chateaux, die ihr Lesegut zu stark extrahiert haben, erzielten „säurereiche Weine von derb-rustikalem Geschmack“.
Viele Weine werden kaum Freude machen
Supermarktketten- und Chateauxbesitzer Gérard Perse versuchte ihm dagegen weiszumachen, dass „die ruppigen Tannine seiner Weine wie Pavie und Bellevue Mondotte lediglich auf die später als üblich einsetzende malolaktische Gärung zurückzuführen“ seien. Für Schwander „unqualifizierte Äußerungen“. Wer ihnen Glauben schenke, wird seiner Meinung nach von den Weinen später enttäuscht sein: „Die Frucht verschwindet. Was bleibt, ist ein hartes Tanningerüst, das Weine ergibt, die zwar aufgrund der massiven Gerbstoffe sehr haltbar sind, aber kaum Freude bereiten.“
Hauptgrund für die durchwachsene Qualität der 2010er sei, so analysiert Schwander, wieder einmal die Trockenheit gewesen, unter der Bordeaux in 2010 wie schon in 2005 und 2003 gelitten hat. Zwischen Mitte Juni und Mitte Oktober fiel praktisch kein Niederschlag. Konsequenz: verzögerte Reife und Dehydrierung der Beeren. Dadurch stiegen automatisch die Zuckerwerte an. In St. Emilion wurden Weine mit über 16 Vol.% geerntet, der La Mission Haut-Brion weist über 15 Vol.% auf: „Diese hohen Zuckerwerte gaukeln eine vermeintliche Reife vor…“
Licht und Schatten
So hat Schwander, im Hauptberuf Weinhändler (aber nicht in der Bordeaux-Subskription tätig), neben exzellenten Weinen in 2010 auch zahlreiche enttäuschende Tropfen gefunden: „Viele präsentieren sich recht unharmonisch, mit harten, unreifen Tanninen, die im Verhältnis zur Frucht überdimensioniert sind.“
Sein Fazit: „Qualitativ findet man alles, von überextrahierten, fast bitteren bis hin zu wunderbar gelungenen, verführerischen Weinen.“
Über die Preise, zu denen der Jahrgang angeboten werden wird, verliert Schwander nur wenige Worte. Er zitiert lediglich einen Négoçiant: „Ohne China würde das Bordelais in einer Krise stecken.“