„Alkohol ist auch in Maßen nicht gesund“ – so lauteten kürzlich die Schlagzeile vieler Zeitungen, Zeitschriften und Internetportale. Zugrunde lag den Berichten eine Meldung von dpa, derzufolge auch moderater Alkoholkonsum gesundheitlich bedenklich sei. Dabei berief sich dpa auf eine Metastudie eines kanadischen Forscherteams an der University of Victoria, die Anfang des Jahres im Journal of Studies on Alcohol and Drugs veröffentlicht worden war. In ihr waren die Ergebnisse von 107 Langzeitudien zum Thema Alkohol und Gesundheit ausgewertet worden. Ich habe mir die Originalstudie angeschaut: Nichts dergleichen steht darin. Erstens: Die Forscher haben herausgefunden, dass jüngere Alkoholkonsumenten (bis 55 Jahren) ein gleich großes Sterberisiko haben wie Abstinenzler. Zweitens: Ältere Alkoholkonsumenten (56 bis 78 Jahre) hatten den Studien zufolge ein geringeres Sterberisiko als Abstinenzler. Verwundert habe ich mir die Augen gerieben. Diese Ergebnisse decken in keiner Weise die Schlagzeile „Alkohol ist auch in Maßen nicht gesund“ ab. Im Gegenteil. Sie widersprechen ihr. Wie kann es sein, dass Journalisten die Quintessenz dieser Studie so verdrehen und die ganze Publikumspresse sie ungeprüft übernimmt?
30 Tage keinen Alkohol: Bin ich auf einmal ein Abstinenzler?
Vielleicht ist das eine Erklärung: Die Kanadier haben die Aussagekraft ihrer Metastudie eingeschränkt. Denn in vielen der untersuchten Studien mussten die Probanten ihren Alkoholkonsum in einem festgelegten Zeitraum angeben. Wer etwa 30 Tage keinen Alkohol getrunken hatte, galt in vielen dieser Studien als Abstinenzler oder Gelegenheitskonsument. Diese Definition sei unscharf, monierten die Forscher. Mit Recht. Die gleich hohe beziehungsweise höhere Mortalitätsrate der Abstinenzler kann auch dadurch zustande gekommen sein, dass gesundheitliche Vor- und Folgeschäden dieser Gruppe aufgrund früheren Alkoholkonsums bestehen. Oder aufgrund von Krankheiten, die die die Konsumenten zum Verzicht auf Alkohol bewogen haben.
Ich finde das Krass
Trotzdem: Dass „Auch wenig Alkohol schaden kann“, wie der Berliner Tagesspiegel, die BILD-Zeitung, Gala, der Deutschlandfunk und ein Dutzend anderer Medien titelten, geht aus der Studie mitnichten hervor. Ich finde so eine Berichterstattung krass. Noch weniger nachvollziehbar, dass „das Gläschen Wein am Abend“ ein gesundheitliches Risiko darstellen solle, wie Geo.de, die Stuttgarter Zeitung, der Bonner Generalanzeiger und t-online.de meinten – letzterer immerhin mit Fragezeichen. Dabei taucht der Begriff “Wein” in der Studie nirgendwo auf. Und die abgeschwächte Überschrift: „Das ‚gesunde Gläschen Wein‘ gibt es nicht“, wie spiegel.de es formulierte, ist zumindest irritierend, evoziert sie doch, dass auch ein harmloses „Gläschen Wein“ der Gesundheit abträglich sein könnte – was nach den Untersuchungsergebnissen nicht stimmt.
Das Wort “Wein” taucht nirgendwo auf
In den Langzeitstudien, die untersucht wurden, ist immer nur von Alkohol generell die Rede. Die Forscher unterscheiden nicht zwischen Wodka, Whisky, Rum, Schnaps, Gin, Bier und Wein, obwohl diese Alkoholika ganz unterschiedlich konsumiert werden – Wein etwa in kleinen Schlucken und in der Regel zum Essen. Niemand streitet ab, dass Alkohol ein gefährliches Zellgift ist, egal in welchem Getränk er enthalten ist. Aber der Körper verstoffwechselt den Alkohol anders, je nachdem wie der Mensch ihn zu sich nimmt. Entsprechend unterschiedlich sind die Folgen für den Organismus. Die Wissenschaft ignoriert die verschiedenen Trinkmuster und Konsummodi – ein gravierendes Manko, das die Validität vieler Studien in Frage stellt, was den Wein angeht. Unter kritischen Medizinjournalisten kursiert daher schon länger der Begriff „Wissenschaftsschrott“.
Die Wahrheit verdreht
Der Leiter der kanadischen Studie, Dr. Tim Stockwell, drückt es vornehmer aus. Er unterscheidet zwischen wenig differenzierenden und qualitativ hochwertigen Studien, die nicht nur die schiere Alkoholmenge erfassen, sondern auch Faktoren wie Rauchen und sozioökonomischer Status der Probanten berücksichtigen. „In qualitativ hochwertigen Studien“ so sein Fazit, „ergibt sich kein Gesundheitsvorteil für moderate Alkoholkonsumenten.“ Okay, aber auch kein Gesundheitsnachteil.
Ist Wein gut für die Gefäße?
Selbst wenn die Behauptung: “Wein in Maßen genossen ist gesund” nicht stimmen sollte: Haben Sie, liebe Leser, wirklich geglaubt, dass Sie mit Wein gegen gesundheitliche Risiken gewappnet sind? Ich nicht. Ich habe nie daran geglaubt, dass Wein, speziell Rotwein, eine nennenswerte Gefäß-reinigende Wirkung hat, auch wenn es Studien gibt, die das Französische Paradoxon belegen wollen: Soviel Rotwein kann nämlich niemand trinken, wie nötig wäre, um die Rate der Herzinfarkte und Schlaganfälle signifikant zu senken. Auf der Basis der dazu nötigen Polyphenolmenge, die Kardiologen errechnet haben, müsste man ungefähr 19 Flaschen tanninreichen Rotweins pro Tag leeren, um sich gegen Verstopfungen der Koronargefäße zu schützen. Schwierig.
Nix eindeutig
Deshalb wäre es meiner Meinung nach wichtiger klar zu machen, dass moderates Weintrinken keine negativen Folgen hat. Das bezweifeln nämlich zahlreiche Epidemologen (allen voran die Weltgesundheitsorganisation WHO) und berufen sich dabei auf Studien, die dies „eindeutig“ belegen. Schaut man sich die Studien näher an, zeigt sich, dass die meisten diesen Schluß nicht zulassen wegen methodischer Schwächen und Mängeln im Untersuchungsdesign. Siehe oben. Also nix “eindeutig”. Auch die kanadische Metastudie bestätigt diesen Sachverhalt. Dr. Tim Stockwell, der Leiter, gibt sich am Ende denn auch mit der dürren Erkenntnis zufrieden, dass moderater Alkoholgenuss offenbar das Leben nicht verlängert gegenüber abstinent lebenden Menschen. Treffender wäre es gewesen, wenn er gesagt hätte: nicht verkürzt.
Niemand trinkt Wein aus medizinischen Gründen
Es wird Weintrinker geben, denen dieses Fazit missfällt und die es anzweifeln. Ich bin damit zufrieden. Ich trinke Wein nicht aus medizinischen Gründen. Ich will ihn genießen, ohne Reue. Mir reicht es zu wissen, dass Wein, in Maßen genossen, kein Risiko für die Gesundheit darstellt. Die kanadische Studie hat mich und alle, die ähnlich denken, darin bestätigt.