Etappe 1: Gnocchi, Grignolino und Grana Padano
Der Schweizer Journalist Stefan Keller liebt Wein und gute Küche und reist gern mit dem Fahrrad. Wie gut Slow Travel und Slow Food zusammenpassen, zeigt sein Bericht aus Norditalien.
Radfahrten entlang eines Flusses sind ideal für alle, die am Berg lieber zu Fuss unterwegs sind und die Kartenlesen auf ein Minimum beschränken wollen. Dafür bietet sich etwa Italiens längstes Gewässer an. Der Po, lateinisch Padus, deutsch Pfad, fliesst auf seinem 652 Kilometer langen Weg durch vier Regionen: Piemont, Lombardei, Emilia-Romagna und Venetien. Der Grossteil der Stecke liegt in der Po-Ebene, in der Pianura Padana, Italiens bedeutendste Landwirtschafts- und Industrieregion. Ein angenehmer Reisebegleiter durch das flache Land ist das 2023 aktualisierte bikeline-Büchlein «Po-Radweg», erschienen im Esterbauer-Verlag.
Fiat und Lingotto
Ausgangspunkt der Tour, wie sie der Reiseführer dokumentiert, ist Turin. Für die Mitnahme des eigenen Fahrrads bieten die regionalen Züge der Ferrovie dello Stato FS beziehungsweise Trenitalia und Trenord genügend Stellplätze, eine Reservation ist weder nötig noch möglich; Personen- und Velofahrscheine sind für beide Gesellschaften über die FS-App erhältlich. Die besten Reisezeiten? April und Mai sowie September und Oktober, klimatisch sowieso und vor allem auch, weil man in diesen Monaten bezüglich Unterkünfte und Restaurants eine grosse Auswahl hat und Museumsbesuche nicht Schlangenstehen heisst. Wie in Turin, wo sich ein Besuch in Lingotto anbietet, ein Stadtteil Turins, dessen Aussehen wesentlich durch die Autobauer von Fiat bestimmt wurde. 1923 begann hier die Produktion in einem Gebäude, das damals als grösste und fortschrittlichste Produktionsanlage Europas galt mit der spektakulären Rundstrecke auf dem Fabrikdach. Sie misst einen Kilometer und diente zur Prüfung der fertigen Modelle vor Ort. Bis in die 1970er-Jahre wurden in Lingotto rund 80 Typen produziert, darunter der legendäre Cinquecento. Nach dem Auszug wurde für die Neugestaltung des Areals ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Renzo Piano ging als Sieger hervor, und nach seinen Plänen wurde aus der Teststrecke eine Kunstmeile (pista 500), ergänzt durch die Pinacoteca Agnelli. In unmittelbarer Nähe steht das Gebäude von Eataly, einem Markt mit Produkten aus allen Teilen Italiens mit Restaurants und wo man sich seine Einkäufe auch gleich zubereiten lassen kann. Ebenfalls in Lingotto befindet sich und das nationale Automuseum mit Prachtexemplaren von Fiat, Lancia, Ferrari sowie ausgesuchten ausländischen Modellen.
Mit dem Velo ins Restaurant
Mit dem Velo ins Automuseum, das ist Turin … oder auch ins Restaurant, zu Angelo ins L’Acino bei der Kirche San Domenico. Seine Weinkarte verrät, wofür sein Herz schlägt: Champagner und Burgunder. Die Auswahl ist unfassbar und zeigt, dass hier die Einheimischen verkehren, die gerne auch einmal über den Gartenzaun hinaustrinken. Am Nebentisch bestellt ein Paar eine Flasche Winzerchampagner und lässt eine Flasche Nuits-Saint-Georges Premier Cru dekantieren. Wir Touristen entscheiden uns dann doch für eine Flasche Gattinara von Travaglini, einen Nebbiolo aus dem Nordpiemont, den Angelo als «soliden Wert» einstuft, eine gute Wahl, die zum Primo mit den federleichten Gnocchi mit der sämigen Castelmagno-Käsesauce und dem Secondo mit butterzartem Stracotto di Manzo passt.
Casale Monferrato und sein Fussball-Vergangenheit
Die erste Tourentag führt ostwärts nach Casale Monferrato, ein Städtchen in der Provinz von Alessandria und rund 90 Kilometer von Turin entfernt. Hier, bei der AS Casale, begann die Karriere Umberto Caligaris und Eraldo Monzeglios. Caligaris wurde später mit Juventus Turin Teil des Quincuennio d’Oro, des fünfmaligen Scudeto, dem Titelgewinn der italienischen Fussballmeisterschaft Serie A, zwischen 1931 und 1935. Nachdem Edoardo Agnelli, Vater Gianni Agnellis, 1923 eine Partnerschaft mit dem Verein eingegangen war, wurde die Mannschaft in ein Profiteam umgewandelt, und dies brachte den Erfolg. 1939 wurde Umberto Caligaris Trainer von Juventus Turin. Während eines Altherrenspiels musste er vom Platz, wurde ins Spital gebracht und verstarb dort, 39-jährig, an einem Aneurysma. Eraldo Monzeglio gab sein Debut ebenfalls bei der AS Casale, sie war damals Teil in der obersten Spielklasse. 1934 gewann er mit der italienischen Squadra an der Weltmeisterschaft das Finalspiel gegen die Tschechoslowakei. In dieser Zeit machte Mozeglio Bekanntschaft mit Benito Mussolini und wurde dessen persönlicher Trainer, nach dessen Tod unterrichtete er dessen Söhne im Tennisspiel. Dies alles erfährt, wer in der Antica Drogheria Corino dal 1764 Platz nimmt, sich von Ruggero Coda Zabetta – stilvoll in feinem Zwirn gekleidet, als stehe draussen seine Lancia Flaminia – einen Cappuccino und Krumiri servieren lässt und mit ihm über die Fotografie ins Gespräch kommt, die prominent an der Wand hängt: Sie zeigt zwei Fussballspieler im Nationaltrikot mit dem Wappen, wie es bis 1943 in Gebrauch war. Und was ist mit den Krumiri? Das ist der bizarre Name eines trockenen, süssen Gebäcks, das Ende des 18. Jahrhunderts erstmals in Casal Monferrato gebacken wurde, seine krumme Form erinnert an einen Schnurrbart. Krumiri schmecken zu Kaffee ebenso wie zu einem Moscato d’Asti, und manche mögen sie auch zu Wermut.
Laufen, Essen, Trinken – die heilige Dreifaltigkeit im Monferrato
Auf dem Weg zum Nachtessen werden wir durch Carabinieri aufgehalten. Die Strassen im historischen Zentrum sind abgesperrt. «StraCasale» hat eben gestartet, ein 6-Kilometer-Lauf rund um Casale Monferrato für Krethi und Plethi: Vorneweg die ambitionierten Renner, schnaufend und schaufelnd, im Mittelfeld die Kleingruppen mit Spass, den Abschluss bilden plappernde Signori und Signore im Nordic-Walking-Modus. In den Gassen sitzt das Publikum beim Aperol Spritz und Chips, eigenartig indigniert schauend statt anfeuernd. Ist da ein schlechtes Gewissen Spielverderber? Wir werden es nicht erfahren. In der Osteria Amarotto wird schon wacker aufgetragen, und wir tun einmal mehr gut daran, erst den Wein zu bestellen und das Essen erst dann, wenn die Flaschen gefunden und Jahrgang und Produzent kontrolliert sind, der Inhalt verkostet ist und Klarheit darüber herrscht, ob der Weisse aus dem Eiskübel und der Rote in den Eiskübel muss, denn oft wird in Italiens Restaurants Weisswein eisig und Rotwein lauwarm serviert.
Grignolino – der Wein der Einheimischen
Wir sind im Anbaugebiet des Monferrato Casalese, und hier wird unter anderem die Rebsorte Grignolino angebaut, sie ergibt in der Regel leichtgewichtige, mitunter etwas robuste Rote, die wohl zur lokalen Küche ausgezeichnet passen, doch nördlich der Alpen nicht so richtig in Schwung kommen. Mit Ausnahmen. Accorneros Grignolino Vigne Vecchie ist ein grosser Rotwein, und er steht auf der Karte der Osteria Amarotto – bloss wurde am Tag zuvor die letzte Flasche getrunken, und der Nachschub ist noch nicht eingetroffen. Der Sommelier empfiehlt als Variante Castello di Uviglies San Bastiano Terre Bianche 2013, ebenfalls ein kultivierter Grignolino, wenn auch nicht von der Klasse Accorneros. Er bleibt dennoch eine gute Wahl zur fein aufgeschnitten Kalbszunge mit Salsa Verde und den Agnolotti del plin, den fleischgefüllten Teigwarentäschchen, die in der Osteria Amarotto mit eingedickter Bratensauce serviert werden.
Über Schotterstraßen am Po entlang
Die Etappe am folgenden Tag soll in Pavia enden, da, wo der Ticino – einer der 141 Nebenflüsse – in den Po fliesst. Auch heute ist kein Gegenwind spürbar, so wie es die meist sehr zuverlässige App «Buidenradar» vorausgesagt hat, und das gibt gute Stimmung. Nur wenige Kilometer ausserhalb Casale Monferratos, hier führt der Weg nördlich des Po über Schottersträsschen, stossen wir auf eine 5er-Gruppe radelnder Italiener mit Satteltaschen, Reisende wie wir also. Das ist eine Premiere, denn bisher kreuzten wir nur «Gümmeler», also sporttreibende Männer auf leichten Rennrädern in enganliegenden Funktionskleidung oder – als fahrradlose Variante – weit ausschreitende Wanderer mit entblösstem, meist fülligem und schweissglänzendem Oberkörper. Ob dies der Vorbereitung auf die Strandsaison geschuldet ist? Einer aus der radelnden Fünfergruppe fällt aus der Reihe mit seiner Sancho-Pansa-Postur, der gelben Warnweste, und mit einem E-Bike: für uns ein mit Doping-Radler. Das Rätsel löst sich im Gespräch: Beppo ist der Koch, der am Abend für seine Freunde in einer Airbnb-Wohnung aufträgt – das ist classy. Alles in allem ist aber für Italiener das Reisen mit dem Fahrrad ein noch ganz und gar unvertrautes Hobby.
In der Bar Dolce Vita wackelt der Tisch
Italien ist auch das Land der Osterien, der meist familiär geführten Gaststätten, in welchen die lokalen und regionalen Gerichte gepflegt werden. Dank «Slow Food» hat man auch als Ortsunkundiger gute Chancen, am richtigen Ort zu landen; zwischen Casale Monferrato und Pavia bleibt aber selbst die Slow Foods-App ratlos. Dann hilft nur noch, in einem der Dörfchen entlang der Route den Kirchenturm anvisieren in der Hoffnung, dass eine Bar nicht weit sein kann. Sie heisst Dolce Vita. Draussen sitzen die Raucher vor vollen Aschenbechern, diskutieren erregt politische Schweinereien und beziffern auf dem Höhepunkt der Erregung die dabei entstandene Schadensumme – in Lira. Der Tisch beginnt ob all den gestenreichen Ausführungen zu wackeln, «e una ballerina», sagt einer der Disputanten sich entschuldigend. Aus der offenen Tür mit den farbigen Streifen des Ripsbandvorhangs ertönt das Geplapper einer TV-Sendung. Wir holen uns eine Aranciata amara an der Bar und stolpern dabei über Kinderspielsachen. Eine chinesische Familie hat die Dorfbar übernommen, ein sich ausbreitendes Phänomen in der Pianura Padana. Die Mutter bereitet uns in der Küche die Piadina zu, das fade Fladenbrot mit Schinken und Käse, ihre Tochter sitzt an der Kasse und regelt das Geschäftliche.
Der rote Buttafuoco verlangt keine vinologischen Exkurse
Wir sind nun in der Lombardei angekommen, und hier, im Anbaugebiet Oltrepò Pavese, wird ein Rotwein mit dem explosivem Namen Buttafuoco gekeltert, eine Mischung aus Barbera, Croatina, Uva rara und Vespolina, es gibt ihn sowohl als Stillwein wie auch als Frizzante, also spritzig. Beide Varianten werden trocken ausgebaut, also ohne Restsüsse, und passen so ausgezeichnet zu den Spezialitäten, wie sie etwa in der Osteria della Madonna in der Altstadt Pavias auf der Karte stehen: Carpaccio d’ombrina, roher feingeschnittener Umberfisch, ein Gericht, wie man es auch als Ceviche kennt, mit Entenragout gefüllte Tortellini, Perlhuhn mit gebratener Polenta und ein paar Stückchen Grana Padano-Käse zum Abschluss. Der Feuerwerfer Buttafuoco ist – wie nahezu alle Roten aus Oltrepò Pavese – eine entspannte Sache, ein Wein also, der das Tischgespräch fördert, doch keine vinologischen Exkurse verlangt.
Etappe 2 folgt
Empfehlenswerte Airbnb- und B&B-Unterkünfte
Turin
La Balounette, Via Antonio Andreis 18/4
Loft Vanchiglia, Via Luigi Tarino 9
Casale Monferrato
Alla Terazza di Corte, Via G. Lanza