Immer am Po entlang
Auf der zweiten Etappe von Piacenza nach Ferrara traf der Schweizer Journalist Stefan Keller beseelte Einheimische, speiste in urigen Trattorien und in einem feinen Restaurant auf einer Insel im Po.
Nach Pavia schlängelt sich der Po weiter Richtung Piacenza, auf diesem Abschnitt fährt man über weite Strecken über Dammwege, teils schotterig, teils asphaltiert, und kommt dabei immer wieder in Blickkontakt zum Fluss: angenehm weitab der Autostrassen. Wir stoppen bei einer Abschrankung: Sollen wir das Fahrverbot befolgen oder es ignorieren? Italienische Beschilderungen haben oft provisorischen Charakter und werden generell elastisch interpretiert.
Pierluigi von der Pilgerherberge
Noch sind wir am Überlegen, da hält «Hero» neben uns, so jedenfalls steht es auf seinem Radfahrertrikot. Der «Hero» heisst Pierluigi Cappelletti, ist pensionierter Dorfschullehrer, war Gemeindepräsident von Orio Litta, dem Dorf, auf das wir in der Ferne blicken. Er betreut seit vielen Jahre das Ostello Grancia Benedittina, eine Pilgerherberge für Wanderer auf der Via Francigena, die von Canterbury in England nach Rom führt. Pierluigi führt uns durch die Abschrankung und freut sich über Gesellschaft an diesem Sonntagnachmittag so sehr, dass er mit uns weiter Richtung Piacenza fährt. Gewiss die Hälfte der entgegenkommenden Radler kennt er per Namen: «Ciao Ugo! Ciao Luigi!» Die «pista ciclabile», der Veloweg, scheint zur Verdauungsfahrt des Sonntagbratens einzuladen. 18 mal hat Pierluigi an der Dolomitentour «Hero» teilgenommen, dem «Härtetest für Helden», wie wir später auf der entsprechenden Ausschreibung erfahren werden. Ein Sturz brach ihm zum Glück nicht das Genick, aber das war es dann. Basta. Wir sprechen ihn auf die vielen landwirtschaftlichen Gebäude an, die leer stehen und dem Verfall preisgegeben sind. Bis in die 1960er-Jahre hätten in der Pianura Padana Gutsbetriebe, aber auch viele Kleinbauern Landwirtschaft betrieben. Durch die Mechanisierung seien die meisten verschwunden. Was damals Dutzende von Bauernfamilien beschäftigt habe, erledigten heute Agrarmaschinen. Wie in Orio Litta würden vielerorts vor allem Mais und schnellwachsende Pappelbäume kultiviert. Ein beträchtlicher Teil des Mais werde für die Biogasanlagen produziert, die Pappeln würden für die Holzgewinnung und die Energieerzeugung bewirtschaftet. In flottem Tempo radeln wir nebeneinander und erfahren zudem, dass rund ein Viertel der 2000 Einwohner von Orio Litta aus dem Ausland stammen. Stark vertreten sind Inder, sie sind in den Käsereien tätig, wo Grana Padano hergestellt wird, und Zugewanderte aus Südosteuropa. Die ersten Albaner kamen während des Jugoslawienkrieges, sie arbeiten vor allem in der Bauwirtschaft. Nicht wenige erwerben leerstehende Häuser und machen sie wieder bewohnbar.
In Piacenza trinkt man Wein aus einer henkellosen Porzellanschale
Piacenza, 80 Radkilometer von Pavia getrennt, ist Hauptort der gleichnamigen Provinz und liegt bereits in der Region Emilia-Romagna. Die Mischung zwischen monotoner Flusslandschaft und lebendigen Städten, bei deren Schönheit es schwerfällt zu sagen, welche die attraktivste ist, macht den Reiz der Reise entlang des Po aus. Und gewiss auch die Vorfreude auf Gasthäuser wie die Antica Trattoria dell’Angelo in der Altstadt von Piacenza. Erst der Wein, dann das Essen. Eine lokale Spezialität ist der Gutturnio, auch er wie Pavias Buttafuoco eine Mischung: Barbera macht den größten Teil aus, Croatina beziehungsweise Bonarda den kleineren. Gutturnio wird als Frizzante, Superiore, Classico Superiore, Riserva und als Classico Riserva angeboten, zudem sind mehrere Erzeuger auf der Weinkarte der Antica Trattoria gelistet. Elisa bedient unseren Tisch, und wir wollen wissen, welchen Wein sie am liebsten trinkt: weder diesen noch irgendeinen andern Wein, sagt sie. Dann solle sie uns doch bitte denjenigen servieren, den ihre Gäste bevorzugen. Und auch gleich einen Eiskübel mitbringen. Sie verwirft die Hände und schüttelt den Kopf: das würde doch den typischen Geschmack unkenntlich machen. Da muss Elisa über ihren Schatten springen, wir aber auch, denn in traditionsreichen Lokalen wie die Antica Trattoria dell’Angelo wird der Wein aus einem «scodellino» getrunken, aus einer kleinen, henkellosen weissen Schale. Und was isst man zum Gutturnio? Es bieten sich die Insaccati tipici an: Coppa piacentina, Pancetta piacentina, Salame piacentino und Prosciutto crudo, dazu eine Giardiniera di verdure in agrodolce, also eingemachtes süss-saureres Gemüse und Gnocco fritto, das federleichte, frittierte Fladenbrot. Exzellent sind hier auch die Tortelli della tradizione, mit Ricotta und Spinat gefüllte Teigwaren in der Form eines verpackten Bonbons, serviert mit viel Butter und Salbei.
Fein speisen auf einer Insel mitten im Po
Die Etappe bis zur nächsten Stadt ist mit 50 Kilometer vergleichsweise kurz. Dies bietet Gelegenheit für ein ausführliches «pranzo» in Monticelli d’Ongina beziehungsweise auf der Insel Serafini, die mitten im Fluss liegt und über eine Brücke erreichbar ist. Sie ist bei Karpfenanglern beliebt, die hier bis zu 30 Kilo schwere Exemplare an Land ziehen. Aber auch Feinschmecker kommen gerne. In der Antica Trattoria Cattivelli kochen die Geschwister Emanuela und Claudia Cattivelli, im Saal servieren die Schwiegersöhne Luca und Massimiliano. Das Lokal schmückt sich mit einem Michelin-Stern und geniesst einen Ruf weit über Monticelli d’Ongina hinaus. So sind dann an diesem Montagmittag viele Tische mit herzhaft essenden und trinkenden Italienern besetzt. Wir entscheiden uns wir uns nicht – wie der grosse Nebentisch – für eine Magnumflsche Champagne Perrier-Jouet, sondern für einen Weißen aus der einheimischen Sorte Ortrugo, ein fruchtbetontes, leichtfüssiges Gewächs. Wie so oft entlang des Po wird auch dieser urtümliche Wein sowohl als Still- wie auch als Perlwein gekeltert. Zum Ortrugo dei Colli Piacentini frizzante ist Culatello di Zibello eine gute Wahl. Bei diesem hauchdünn aufgeschnittenen Trockenfleisch handelt es sich um einen Rohschinken, der vielen als edelste Version des Prosciutto gilt. Als «primo» schicken die Schwestern Cattivellis ein Risotto mit Stör aus der Küche, es ist von einer Konsistenz und Präzision, wie man es nicht besser machen kann. Angenehm, dass auch hier wie vielerorts diskussionslos eine Portion auf zwei Teller aufgeteilt oder eine halbe Portion bestellt werden kann. So bleibt noch Platz für ein Rhabarbertiramisu, so dass die folgenden 20 Kilometer nach Cremona beschwingt in Angriff genommen und nicht zur Schinderei werden.
Cremona: Das Geigenmuseum des Käsebarons
Die Stadt Cremona verdankt einem Schweizer Käser die Stiftung Centro di Musicologia Walter Stauffer. In den 1920er-Jahren baute dieser in Cremona ein dreistöckiges Gebäude, wo er im industriellen Massstab Emmentaler produzierte und diesen weltweit exportierte. Auf seinen Auslandreisen wird er immer wieder die Cremoneser Tradition des Geigenbaus angesprochen, auf die Instrumente Amatis, Guarneris und Stradivaris. Davon war in Cremona vor Stauffer kaum mehr etwas sichtbar. 1969 schenkte der Käsebaron der Stadt den Palazzo Raimondi, die dort dank seiner Stiftung eine Geigenbauschule und ein musikwissenschaftliches Zentrum errichtet konnte. Stauffer starb 1974 und vermachte sein gesamtes Vermögen dem Centro di Musicologia. Dieses ist auch in Besitz einer Sammlung historischer Instrumente, die im Museo del Violino ausgestellt sind und im integrierten Auditorium Giovanni Arvedi regelmässig erklingen. An diesem Mittag spielt die rumänische Geigerin Aurelia Macovei auf Antonio Stradivaris 1727 erbautem Instrument «Vesuvio». Sie reizt in ihrem Programm die Höhen und Tiefen und Tempi aus, mit Stücken von Vivaldi, Paganini und Brahms und vermag mit ihrem virtuosen Spiel selbst Schulklassen zum Schweigen zu bringen.
Der Mann der Sommelière trinkt nur Bier
Beschwingt geht’s nach diesem mittäglichen Überraschungskonzert, das wir uns nicht entgehen lassen wollten, erst spät los Richtung Ferrara, eine Etappe, die wir in zwei Tagestouren unterteilen und uns für den ersten Streckenabschnitt bis nach Bozzolo von der FS transportieren lassen, der staatlichen Eisenbahn, dies auch, weil auf der nördlichen Seite des Po Osterien und Unterkünfte dünn gesät sind, jedenfalls für «buongustai», für Feinschmecker. Gut, dass Italiens Regionalzüge für Fahrradfahrer generell unkomplizierte Transportmittel sind. Erwartet werden wir am Abend von Sergio und Fernanda in ihrem B&B Casa Polè in Corregio Micheli, das Haus liegt in Sichtweite zum Po, der hier in seiner ganzen Breite Auslauf hat und stellenweise an einen See erinnert. Vor zwei Jahren haben die beiden im Alter, wo viele Leute ihrer Generation bereits in Pension sind, die Casa Polè in ein Gästehaus umgestaltet. Das Paar arbeitet teilzeitig auch im Aussendienst als Vertreter, Fernanda bei einem Getränkehändler mit ausgezeichnetem Weinsortiment, was in der Casa Polè sichtbar ist: Im Speisezimmer steht eine Wand voller Flaschen aus der Region von Mantua und aus anderen Gebieten Italiens. Fernanda, die jahrelang ein Zuvor führte sie ein Sali e Tabacchi-Geschäft führte, hat sich in den letzten Jahren von der A.I.S., der italienischen Sommeliersunion, zur Sommelière ausbilden lassen. Seitdem hat die Leidenschaft für Wein sie seitdem. Leider trinkt Sergio nur Bier, und davon am liebsten die Marke «Corona», die von Fernanda abschätzig als Getränk bezeichnet wird. Sergio, von der Statur eines Sumoringers, ist gelernter Koch, betrieb ein eigenes Restaurant, doch brachte er es damit auf keinen grünen Zweig. Ihm fehlt nach eigenem Bekunden der Geschäftssinn. Nun kocht er nach Lust und Laune für die Gäste seines Hauses. B&B bedeutet ja eigentlich Bed & Breakfast, nicht aber Gästehaus. Die Behörde drückt ein Auge zu. «Arrangiarsi» heisst das Zauberwort: Man arrangiert sich stillschweigend. Noch verschwitzt stehen wir vor der Küche und lassen uns erklären, was er heute Abend für uns zubereiten könnte. Wir lassen ihm freie Hand, besprechen mit der Sommelière, was sie aus ihrem Weinkeller bereit stellen soll und ziehen uns für das zurück, was nach einer Fahrradtour vor dem Nachtessen ansteht. Als wir – wieder gesellschaftsfähig – ins geräumige Esszimmer treten, staunen wir wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum: Der Tisch ist festlich hergerichtet, gedeckt mit weissem Leinentischtuch, den gehäkelten Bordüren, feinstem Porzellan und Silberbesteck. Frische Blumen aus dem Garten stehen in der Vase, hausgemachtes Brot steht bereit und der eingekühlte, flaschenvergorene Spumante aus Trebbiano-Trauben, ein Cavaliera Pas Dosé Millesimato, ist eingekühlt. Als erstes serviert uns Sergio einen Teller in der Art eines Carpaccio mit feingeschnittenen Scheibchen von Artischockenherzen, mariniert mit Zitrone und Olivenöl und bestreut mit Parmigiano-Reggiano-Splittern, es folgt ein taufrischer Salat aus eigenem Garten und ein sämiges Risotto, angereichert mit Squacquerone-Käse. Für den Secondo wechseln wir zu einem Lieblingswein Fernandas: Guiry 2021, ein reinsortiger Sangiovese aus den Rebbergen der Tenuta Mara in San Clemente bei Rimini, ein Gewächs von geradezu burgundischer Anmutung. Sergios Scaloppine di manzo, eingebunden in einen raffinierten Aceto-Balsamico-Fond, runden den Schmaus ab. Heute Abend hatten auch wir unseren Privatkoch …
Letzte Vesper im Benediktinerinnenkloster bei Ferrara
80 Kilometer sind es von der Casa Polè bis nach Ferrara. Nun radeln wir wieder auf die südliche Seite des Po und kommen auf den meist asphaltierten und weitgehend autofreien Strässchen flott voran. Am frühen Nachmittags erreichen wir bereits unser Ziel: Ferrara, città delle biciclette, Fahrradstadt, so steht es jedenfalls auf einer Strassentafel. Sie steht am Stadtrand präzise dort, wo die Fahrradfahrer von ihrer Piste auf die Autostrasse wechseln müssen: von Velofreundlichkeit vorerst kaum was zu spüren. In der Innenstadt hingegen schon, diese ist von einer intakten, neun Kilometer langen Festungsmauer umgeben. In diesem inneren Kreis teilen sich Fussgänger und Fahrradfahrer – aber auch immer noch viele Autos – die Gassen, Strässchen, Plätze. Unser Logis ist Barbaras Casa del Glicine, eine Parterre-Wohnung mit kleinem Garten. Barbara ist begeistert von ihrer Stadt und empfiehlt uns so viele Sehenswürdigkeiten, dass selbst eine Ferienwoche in Ferrara zu kurz wäre, um alle zu besuchen. Was wir uns jedoch nicht entgehen lassen, das ist die Vesper im Benediktinerinnenkloster San Antonio in Polesine. Es liegt gleich um die Ecke. Die Schwestern, eine sehr überschaubare Zahl, kommen um 17 Uhr zum «psallieren» in lateinischer Sprache zusammen, dem Wechselgesang der Psalmen im Jahreskreis. Nach Ende der Vesper zünden wir in der Klosterkirche eine Kerze an – in Ferrara endet für uns die Reise. Alles ging gut. Noch 80 Kilometer sind es bis zum Parco del Delta del Po. Doch dorthin fährt die Eisenbahn nicht, die wir für die Rückreise brauchen.
Empfehlenswerte Airbnb- und B&B-Unterkünfte
- Cremona
- Civico 24, Via Elio Crotti 14
- Corregio Micheli
- Casa Polè, Via Po Barna 3
- Ferrara
- Casa del Glicine, Via Quartieri 1