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Marqués de Murrieta: Old school war gestern

Das altmodisch-verschnörkelte Etikett seines Castillo Ygay, des Spitzenweins, kennen vermutlich mehr Menschen als den Inhalt der Flasche, der rar und teuer ist. „Ich sage nicht, dass meine Weine die besten sind“, bekennt der Besitzer Dalmau Cebrian-Sagarriga voller Demut. „Sie sind speziell. Man liebt sie oder man hasst sie. In jedem Fall aber erinnert man sich an sie.“

Finca Ygay, Herzstück von Marqués de Murrieta

Hohe Bewertungen der Kritiker

Hasskommentare zu dem Wein hat es bislang eher nicht gegeben. Folglich kann man davon ausgehen, dass die Menschen den Wein lieben. Die Frage ist höchstens: wie sehr? Die Bewertungen der internationalen Kritiker schwanken zwischen 95 und 100 Punkten, je nach Jahrgang, und zwischen 92 und 94 Punkten für die Reserva. Heißt: Die Liebe muss groß sein. Aber Reserva und Castillo Ygay sind nicht nur gute, sondern auch besondere Weine. Der Ygay passt nicht so recht in das Profil der modernen Rioja wie die Weine von Izadi, La Nieta, Remirez de Ganuza, Pujanza, San Vincente, die ganz oder fast ganz aus Tempranillo gewonnen sind, aus der Rioja Alavasa, dem baskischen und kühlsten Teil des Anbaugebiets, kommen, das sich die Hänge des Cantabrischen Gebirges bis auf 800 Meter hochzieht, während die Weinberge von Marqués de Murrieta  größtenteils auf 400 Meter Höhe liegen in der südlichen Rioja Alta. Dort ist es wärmer, der Carineña-Anteil (lokal Mazuelo genannt) an der Cuvée ist traditionell höher: Die Weine sind fülliger, runder, reicher.

Faustdicke Überraschung: der Rioja Blanco Capellanía

Nach dem Lunch, zu dem Dalmau kürzlich in der Stadt, in der ich lebe, geladen hatte, muss ich ein Geständnis machen: Ein anderer Wein von Marqués de Murrieta hat mich noch mehr in seinen Bann gezogen als die Rotweine: der Capellanía: eine Rioja Reserva Blanco aus 100% Viura und 22 Monate Ausbau in französischen Barriques. Weißwein spielt in der Rioja eine untergeordnete Rolle. Bei Marqués de Murrieta sind gerade mal fünf Prozent der Rebfläche mit weißen Reben bestockt. Aber vielleicht wird sich das in Zukunft ändern angesichts der steigenden Weißwein-Nachfrage weltweit. Der Capellanía wäre jedenfalls ein Argument dafür: ein Weißwein mit großer Struktur und dem subtilen Aroma von Butterkeks, Salzzitrone, Williamsbirne, Mandeln sowie einem Hauch mediterraner Kräuterwürze. Eine Luxuscuvée, gewichtig wie ein Rotwein, aber ohne Malo und deshalb mit einer feinen Säureader durchzogen, die ihr Frische gibt. Wir tranken sie zu Kalbsravioli. Sie hätte aber ebenso gut auch zu einer Kalbshaxe gepasst.

Viele Weißweine dieser Güteklasse gibt es nicht

Dass die Rioja Weißweine dieses Kalibers hervorbringt, zumal in Zeiten des Klimawandels, wusste ich nicht. Das vermutliche Geheimnis: die hohe Lage (fast 500 Meter), die größtenteils nördliche Ausrichtung des Weinbergs, alte Reben (zumeist 1945 gepflanzt) sowie die lehmig-kalkhaltigen Böden, die einerseits für die Struktur, andererseits für Eleganz sorgen. Viele Weißweine dieser Güteklasse gibt es nicht in der Rioja, eigentlich nur einen: Viña Tondonia Blanco Reserva von Lopez de Heredia. Dalmau nickte bei der Erwähnung des Namens: „Auch gut.“

Dalmau: „Ein Stück Spanien“

Dalmau Cebrian-Sagarriga und Jens Priewe

Das Rückgrat der Bodega aber sind natürlich die Roten. Auf ihnen beruht der Ruf und der Ruhm von Marqués de Murrieta. 1852 war der erste Jahrgang, von dem die Welt Notiz nahm. 50 Fässer seines Weins erreichten nämlich Kuba. Dort begann die Karriere des Murrieta-Weins, und sie hat sich bis heute fortgesetzt, mit Höhen und mit Tiefen. „Murrieta ist nicht einfach nur ein Wein“, sagt Dalmau. „Es ist ein Stück Spanien.“ Altspanien. Weil die adeligen und reichen Spanier früher nur reifen Rotwein tranken, wurden die Weine der noblen Bodegas lange im Holz ausgebaut und erst spät freigegeben. Auch die alten Jahrgänge von Marqués de Murrieta waren immer Gran Reserve oder Reserve Especial.  Sie lagen mal 20, mal 30 Jahre im Fass, bevor sie gefüllt wurden. Der 1942er reifte beispielsweise fast 40 Jahre im Holz. Manche Weine waren schon müde, wenn sie in den Verkauf kamen. Old school, sagen die Kritiker. Doch einzelne Jahrgänge vertrugen das lange Holzlager gut. Jahrgänge wie 1919, 1925, 1934, 1959, 1964 sind Legenden, für die nicht nur Spanier, sondern auch vermögende Menschen anderer Nationen heute hohe Preise zahlen, wenn eine Flasche mal auf einer Auktion auftaucht.

1983 begann die neue Ära

1983 kaufte Dalmaus Vater, der Bauunternehmer Vicente Cebrian-Sagarriga, die heruntergewirtschaftete Bodega samt 300 Hektar Weinbergen dem letzten Nachkommen der Murrieta-Dynastie ab. Der Deal wurde nach einer durchzechten Nacht in einem italienischen Restaurant in Madrid per Handschlag besiegelt. Damit begann die neue Ära von Marqués de Murrieta. Als Dalmaus Vater 1996 unerwartet starb, übernahmen er und seine Zwillingsschwester Cristina das Gut und renovierten es behutsam. Zusammen mit der jungen Kellermeisterin Maria Vargas versuchten sie, dem Geschmack der jüngeren Weintrinker-Generation, die in der New Economy zu Wohlstand gekommen waren, näher zu kommen. Langsam, aber konsequent verkürzten sie die Ausbauzeit im Holz. Der Wein sollte frischer und eleganter werden. Die neuen Jahrgänge von Castillo Ygay kommen bereits nach durchschnittlich zwölf Jahren auf den Markt, aber haben nur noch zwei bis drei Jahre in Barriques gelegen. Die restliche Zeit bis zur Freigabe verbringen sie im Stahltank beziehungsweise in der Flasche. Tempranillo macht den Hauptanteil an der Cuvée aus, auf die Mazuelo kommen zwischen 12 und 20 Prozent. Andere in der Rioja übliche Sorten kommen zumindest beim Castillo Ygay nicht zum Einsatz.

Castillo Ygay: nur in guten Jahren abgefüllt

Der Castillo Ygay ist das Flaggschiff der Bodega. Bis zu 130 000 Flaschen werden von ihm produziert – aber nur in guten Jahren. Der derzeit aktuelle Jahrgang dieses Weins ist der 2012er. Ihn vorzustellen, war Dalmau auf Initiative seines Importeurs Grand Cru Select (gehört zur Wein Wolf-Gruppe und damit zu Hawesko) nach Deutschland gekommen. Eine besondere Bedeutung erhielt der Besuch dadurch, dass der 2012er für einige Jahre der letzte sein wird, der auf den Markt ist. 2013, 2014 und 2015 wird es keinen Castillo Ygay geben. Der nächste Jahrgang wird der 2016er sein. Er wird erst in drei Jahren freigegeben.

Auch die Bezeichnung „Reserva“ verschwindet jetzt

Der numerisch wichtigste Wein von Marqués de Murrieta aber ist die Rioja Reserva. Von ihr werden über eine Million Flaschen erzeugt. Neben Tempranillo und Mazuelo gehen noch Graciano und Garnacha in die Cuvée dieses Weins ein. Seit dem (aktuellen) Jahrgang 2019 verzichtet Murrieta auf die Bezeichnung Reserva. Der Wein kommt als einfacher Rioja auf den Markt (in ausgewählten Jahren gibt es noch eine Limited Edition, die als Gran Reserva firmiert). Eine Crianza hat Marqués de Murrieta nie produziert. Ein vierter Rioja enthält Cabernet Sauvignon. Mit ihm wollte (und will) Dalmau demonstrieren, dass er auch die internationale Stilistik beherrscht. Der Wein ist nach ihm benannt: Dalmau. Der Name Marqués de Murrieta taucht auf dem Etikett nirgendwo nicht auf.

Die Weine

2019 Rioja „Finca Ygay“

Dieser einfach nur „Finca Ygay“ genannte Rioja ist eine Art Vorhut für kommende Entwicklungen: ein straffer, von frischer Beerenfrucht und elegantem Tannin getragener, ganz und gar nicht „altspanischer“ Wein, der nur 10% neues Holz hat (amerikanische Eiche). 2019 war ein exzellenter Jahrgang in Nordspanien, der Trauben mit perfekter Reife hervorgebracht hat. Dank 6% Graciano besitzt er mehr Frische (früher war die Graciano gar nicht Bestandteil der Cuvée). Das Tannin ist aufgrund vorsichtigerer Extraktion feiner, die Frucht klarer. Tolles Preis-/Leistungsverhältnis (26 Euro). 93/100

2016 Rioja Gran Reserva

Die 2016er Gran Reserva (eine Selektion bester Fässer) ist üppiger, aber im Vergleich zum 2019er weniger präzis und weniger frisch (70 Euro).  92/100

 

2016 Rioja Reserva Dalmau

Die moderne Variante eines Rioja ist der Dalmau. Ein Lagenwein mit 10 bis 12% Cabernet Sauvignon, dadurch dunkler und konzentrierter als die anderen Weine. Er lagert nur 17 Monate im Holz und im Unterschied zum Castillo Ygay in französischer Eiche. Außerdem besitzt er (dank 6% Graciano) mehr Frische, was bei den internationalen Weinkritikern meistens gut ankommt.  Kurz: ein exzellenter, aber kein spezieller Wein (120 bis 200 Euro). 94/100

2012 Castillo Ygay

Der neue, gerade freigegebene Jahrgang des Flaggschiffs bestätigt den Eindruck, dass die Weine von Marqués de Murrieta jedes Jahr ein kleines Stück „moderner“ werden. Die Entwicklung geht in Richtung Eleganz und Frische. Der 2012er (mit 19% Mazuela) zeigt das auf beeindruckende Weise, wobei – und das ist wichtig – er seine spezielle Note beibehält: ein hedonistischer, bestens strukturierter Wein, der seine ganze Fülle auf den Punkt bringt und nicht an den Rändern auseinanderfällt, dicht gewoben mit perfekt verschmolzenem Tannin und einer reifen, aber nicht überreifen Beerenfrucht, die einerseits frische, andererseits geleeartigen Noten aufweist: das „süße Gift“ von Murrieta. Nach hohen Bewertungen der internationalen Kritiker für den 2012er hat sich der Wein deutlich der 300 Euro-Grenze genähert. 96/100

2011 Castillo Ygay

Wie alle Castillo Ygay kommt auch der 2011er aus der hohen Lage La Plana. Die Reben wurden dort 1950 gepflanzt. Der 2011er besteht aus 84% Tempranillo und 16% Mazuelo. Beide Sorten wurden getrennt vergoren und ausgebaut – der Tempranillo in amerikanischer, der Mazuelo in französischer Eiche.  Das Resultat: einer der besten Ygays dieses Jahrhunderts, besser noch als 2009 und 2010 (200-220 Euro). 96/100

1980 Castillo Ygay

Nach über 40 Jahren zeigt der Ygay sein wahres Gesicht: makellose, überraschend frische Frucht, süße orientalische Würze mit Piment und Rosenpaprika, spürbare Säure, die den Wein geschmeidig und schlank erscheinen lässt. Mit nur 13% Alkohol und lediglich 72% Tempranillo (Rest Mazuelo, Garnacha, Graciano) gehört er zur Fraktion der leichteren Ygays. Und ein bisschen old school ist er auch. Ganze 6 Jahre lag er im kleinen Holzfass – mehr als doppelt so lange wie die aktuellen Jahrgänge. Man mag das kritisieren und ihn für zu dünn halten. Man kann aber auch schätzen, dass er besonders seidig über den Gaumen läuft (250 bis 400 Euro). 94/100

1986 Castillo Ygay Rioja Blanco Gran Reserva Especial

Zum Schluss des Tastings gab es diesen süßen Rioja Blanco: ein Wein, der 21 Jahre in amerikanischer Eiche und weitere sieben Jahre in Betonzisternen gereift ist, bevor er auf die Flasche kam. Getrocknete Aprikose, Orangenkonfitüre, Bourbonvanille, Salzmandeln, Honig – so könnte man den Geschmack beschreiben. Dalmau nannte ihn einen „alten Rockstar“, der Verkoster des englischen Decanter den „schockierendsten Wein“, den er je getrunken habe. Diese Gran Reserva Especial wird reinsortig aus spät gelesenen Viura-Trauben gekeltert – aber nicht jedes Jahr. Seit 1870 ist dieser Dessertwein nur 13 mal produziert worden. Mit knapp 1000 Euro hat die Rarität ihren Preis. 97/100

Bezugsquellen: www.vinos.de, www.moevenpick-wein.de, www.tesdorpf.de, www.hawesko.de, www.gute-weine.de, www.silkes-weinkeller.de, https://lieblings-weine.de, www.vinumnobile.de, www.vineshop24.de, www.genuss7.de, www.weinco.de, https://perbaccowein.de, www.kateandkon.de, www.lieblingsweinladen.de, www.antikwein.de, www.iberowein.de, www.vinehouse.de und andere.

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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