Deutschland galt mal als das Land der Dichter und Denker. Das war, als Goethe und Schiller, Kant und Hegel lebten. Also lange her. Heute ist Deutschland ein Land der Ingenieure. Vom Auto über pharmazeutische Produkte bis zum Elektronenmikroskop – bei vielem von dem, was Ingenieure entwickelt haben, ist Deutschland Weltmarktführer. Aber der Hang zum Dichten und Denken ist den Deutschen nicht ganz abhanden gekommen. Was den Wein angeht, so lässt sich sagen, dass das Thema Bio nirgendwo so gründlich analysiert und so wort- und bilderreich beschrieben wird wie hierzulande: in Büchern, im Fernsehen, in Podcasts, bei Youtube, auf Symposien und natürlich in den entsprechenden Winzerkreisen.
Wein ohne Chemie – das ist heute zu wenig
Daran ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Wenn schon Autos und Gasheizungen nicht ökologischen Ansprüchen genügen, dann soll es wenigstens der Wein tun. Konkret bedeutet das, im Weinberg ohne Herbizide, ohne Fungizide, ohne Insektizide, ohne Mineraldünger auszukommen, im Keller ohne Reinzuchthefen, ohne Schönungsmittel und mit so wenig Sulfiden wie möglich zu arbeiten. Klappt auch ganz gut. Inzwischen ist schon 12,5 Prozent der deutschen Weinanbaufläche biozertifiziert durch Bioland, Ecovin, Demeter.
Sustainability bedeutet mehr als nur Biowein erzeugen
In Kalifornien hingegen ist Biowein nur ein Etappenziel. Das Engagement für Natur und Umwelt reicht über Weinberg und Keller hinaus. Den Weingütern geht es darum, den gesamten Produktionsprozess einschließlich der Vermarktung ins Visier zu nehmen, um den CO2-Fussabdruck so klein wie möglich zu halten. Sustainability, also Nachhaltigkeit,
umfasst den Einkauf, die Materialwirtschaft, die Energieversorgung, die Lieferketten, die Logistik, das Bauwesen, die Mitarbeitermotivation. Das bedeutet: Die Kreise, die das Bemühen um Nachhaltigkeit zieht, sind in Kalifornien weiter gezogen als in Europa. Sie reichen hinein in andere „Systeme“, die über die reine Weinproduktion hinaus gehen: in Handel, Spedition, Architektur, Technik, ja sogar in die Politik. 60 Prozent der kalifornischen Weinanbaufläche werden von Wineries bewirtschaftet, die Nachhaltigkeits-zertifiziert sind.
In Deutschland Initiativen beseelter Einzelwinzer…
Sicher, erweiterte Nachhaltigkeitsbemühungen gibt es auch in Deutschland (und bei seinen Nachbarn). Aber sie beruhen meist auf Einzelinitiativen beseelter Biowinzer, die sich privat für eine bessere Umwelt engagieren. Sie hängen Nistkästen auf, pflanzen Hecken und Bäume, installieren Photovoltaik auf dem Dach, fahren mit dem E-Bike statt mit dem SUV in ihre Weinberge. Solche Maßnahmen sind bei kalifornischen Wineries, die sich dem organic farming verschrieben haben, beinahe schon die Regel.
…in Kalifornien eine große Bewegung
Vor ein paar Tagen fiel mir die Liste der diesjährigen Gewinner des Green Medal Award in die Hände, eines von mehreren kalifornischen Winzerorgansationen und dem California Wine Institute ausgelobten Nachhaltigkeits-Wettbewerbs. Wer die Siegerliste (und auch die der vorjährigen Gewinner) liest, erkennt schnell, dass Nachhaltigkeit mehr ist als Begrünung der Weinberge und Verzicht Agrarchemie.
- Den Green Medal Business Award bekam dieses Jahr Vino Farms in Lodi, die mit vielen kleinen Maßnahmen den Resourcenverbrauch minimiert: zum Beispiel mit Feuchtigkeitsonden, um eine Überwässerung der Böden zu verhindern. Oder durch die konsequente Umstellung des Fuhrparks auf Biokraftstoff.
- Lange Twins in Lodi, diesjähriger Gewinner des Green Medal Leader Award, hat 17 Hektar Reben aus der Produktion genommen, um Wildlife in der Gegend zu fördern. Hirsche und Rehe dürfen sich unbelligt an den Knospen alter Zinfandel-Reben gütlich tun. Vor zwei Jahren hatten wir ausführlich darüber berichtet.
- Bogle Family Vineyards südlich von Sacramento hat eine neue Weinlinie lanciert, die ausschließlich in Aluminiumflaschen abfüllt. Sie wiegen nur 50 Gramm. Der Energieverbrauch bei ihrer Herstellung beträgt fünf Prozent einer Glasflasche.
- Scheid Family Wines produziert mit einer Windturbine im Salinas Valley 4700 Megawatt sauberen Strom im Jahr, mit dem der gesamte Energiebedarf des Weinguts und der von 125 Haushalten in der Gegend gedeckt wird.
- Trefethen Vineyards im Napa Valley hat in eine Anlage für Brauchwasser-Aufbereitung investiert, durch die ein wichtiger Schritt hin zu einer Kreislaufwirtschaft getan wird.
- Fetzer Vineyards in Mendocino, der kalifornische Bio-Pionier, ist als erstes Zero Waste-Weingut zertifiziert worden.
- Für viele Betriebe gehört Tierhaltung zum organic farming dazu. In den Weinbergen von Spottswoode im Napa Valley, wo konsequent Biodynamie praktiziert wird, leben Hühner, Schafe und Esel.
- Wente Vineyards in Livermore Valley benutzt als erstes Weingut einen E-Traktor in seinen Weinbergen, der 87 Prozent weniger CO2-Emissionen produziert als ein vergleichbarer Dieseltraktor.
- Die Silver Oak Winery im Napa Valley hat sich zum Ziel gesetzt, beim Bau neuer Gebäude möglichst viel nachwachsende Rohstoffe wie Holz zu verarbeiten.
- Große Betriebe kontrollieren zunehmend die Lieferketten und drängen Lieferanten und Speditionen, ihren Fuhrpark auf Elektrotrucks oder Biodiesel umzustellen. Andere prämierte Winerys verzichten auf Hochglanz-Pappe für Weinkartons und benutzen ausschließlich Kartons aus Recycling-Pappe. Weinetiketten werden mit wasserlöslichen Naturfarben bedruckt statt mit Chemiefarben.
- Tablas Creek Vineyard in Paso Robles investiert massiv in die Weiterbildung seiner Angestellten und gewährt ihnen Zuschüsse für die medizinischen Versorgung, um sie als qualifizierte Arbeitskräfte halten zu können. Nachhaltigkeit bedeutet auch, die Attraktivität des ländlichen Raums zu erhöhen und den Menschen – vor allem den eigenen Arbeitern – Lebensqualität zu bieten.
- Sein Nachbar J. Lohr Vineyards and Wines bietet seinen Arbeitern unbefristete Arbeitsverträge mit jährlichen Bonuszahlungen – bei der hire-and-fire-Nation eine Seltenheit.
- Vor einem Jahr hatten wir bereits über das Weinguts-Imperium von Kendall-Jackson berichtet, für das Nachhaltigkeit tief ins Soziale hineingeht. Gewollte ethnische Diversität, hohe Frauenquote, Verzicht auf Lohndumping – all das gehört für die Jacksons zu den Prinzipien des organic farming dazu.
- Einige Weingüter gehen noch weiter. Cakebread im Napa Valley und Cooper-Garrod in den Santa Cruz Mountains agieren in den sozialen und politischen Raum hinein und engagieren sich in kommunalen Verbänden, um in die politischen Gremien hinein zu wirken.
Der amerikanische Pragmatismus schlägt durch
In Deutschland ist die Zertifizierung vor allem auf das Produkt und seine weinbauliche Erzeugung konzentriert. Ecovin, die wichtigste deutsche Zertifizierungsinstitution, schreibt zwar „Biodiversität“, „Ressourcenschutz“ und „Sozialverträglichkeit“ auf ihre Fahnen, wird aber nicht konkreter. Auch Demeter unterstützt den Nachhaltigkeitsgedanken nur abstrakt. „Wir schützen Klima und Ressourcen“, heisst es im Pogramm der Biodynamiker. Und: „Wir engagieren uns für Vielfalt.“ Die Geisteshaltung ist also durchaus vorhanden. Aber das Mindset der Amerikaner ist anders gepolt. Es richtet sich mehr aufs Machen. Nicht dass die Amerikaner nicht Denken und Dichten. Aber berühmt sind sie nun mal für ihren Pragmatismus.