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Justin Leone: Was macht ein Sommelier nach Feierabend? Teil 1

„Die üblichen Verdächtigen“


Ein voyeuristischer Bericht von einem ganz normalen Tag im Jenseits. Von Justin G. Leone
| Übersetzung: Jan Schönherr

Justin LeoneWas glauben Sie eigentlich, was wir Sommeliers machen, wenn der letzte Gast gegangen, die Tür abgeschlossen und das letzte Poliertuch zum Trocknen aufgehängt ist? Was für eine Frage! Wir packen unsere Taschen, lockern behutsam die doppelten Windsorknoten unserer Krawatten und eilen ohne Umwege zu unseren akkurat aufgeräumten, IKEA-möblierten Wohnungen in einem pseudo-schicken und doch irgendwie Grunge-Hipster-mäßig trendigen Viertel der Stadt. Natürlich nur, um Tee aufzusetzen, die Nadel des Plattenspielers auf das von Karajan dirigierte Adagio aus Mozarts 40. zu setzen und über der nächtlichen Lektüre des Faust einzuschlafen.

Falsch. In meiner Wohnung regiert das Chaos.

Wie es sich für gute Außenseiter gehört, haben urbane Sommeliers gelernt, ihrem sozial oft begrenzten Umfeld zu entgehen. Sie finden Zuflucht in den Ecken und Winkeln versteckter Restaurants und abseitiger Kneipen. Sie klammern sich fest an braune Papiertüten voller Schmuggelware und werden von mitfühlenden Ladenbesitzern eilig durch Hintertüren und Seiteneingänge geleitet, als wären sie Vampire, die versuchen, dem tödlichen Tagesanbruch zu entkommen. Lieber als den arglosen lebendigen Geschöpfen der Gegend stellen diese Kinder der Nacht jedoch einer schwerer greifbaren, exotischeren Beute nach; wobei wenigstens das Einbringen der „Ernte“ in diesem Fall etwas weniger bizarr ist. Schattierungen von Karmesin, Granat, Rubinrot und Sepia strömen in einem wahrhaft bacchantischen Blutbad zusammen, aus Flaschen, deren Etiketten im Laufe eines erlebnisreichen Daseins abgenutzt wurden. Ihr Äußeres lässt eher an vergrabene Schätze oder Museumsobjekte denken. Weltkriege und Revolutionen haben sie überstanden, jetzt breiten sie bei jedem Schwenken, Schlürfen und Gurgeln sämtliche berauschenden Details ihrer Geschichte vor uns aus.

An jenem Montag aber erinnerte die Zusammenkunft nicht ganz so sehr an Bram Stoker. Eher ein wenig an einen kunterbunt zusammengewürfelten Haufen von Künstlern und Aussteigern, Gelehrten und Wirtschaftsbossen, einig in ihrem Streben, einen Beutezug hinzulegen, wie ihn diese bescheidene Kneipe noch nie zuvor gesehen hatte. Nein, das ist nicht der Anfang einer Szene voll Dekadenz und wilder Massaker aus From Dusk Till Dawn, auch wenn der „Body Count“ gefallener Flaschen vielleicht etwas anderes verheißt. Bedenkt man außerdem, wie nah alle Beteiligten wohl am nächsten Tag dem Tode schienen, wäre es wohl kaum glaubhaft, unsere Verwicklung in dieses bis zum Äußersten gehende Feuergefecht abzustreiten. Beim Versuch, an einem nebligen Münchner Vormittag die Ereignisse des Vorabends zu rekonstruieren, beginnen wir natürlich damit, die üblichen Verdächtigen zu befragen.

Alles begann ungefähr so: Ein bekannter Sammler beschloss, seinen privaten Vorrat ein wenig anzuzapfen und jenen Montag wie seinen letzten auf Erden zu verbringen. Als Kulisse sollte der winzige Spareribs- und Longdrink-Schuppen „Red Hot“ herhalten – eine bei den Jüngern des Verfalls und der akademischen Welt gleichermaßen höchst beliebte Weinbar in der Amalienpassage, in der man zu kräftigem Essen, günstigem Burgunder und übertrieben nachsichtig geführten intellektuellen Geplänkeln zusammenkommt. Der Besitzer, ein enger Freund des Sammlers, diente als Verbindungsmann und wurde mit der Aufgabe betraut, eine geeignete „Fünfergang“ zusammenzutrommeln, mit der man einen so chaotischen Coup durchziehen konnte. Er kontaktierte die heruntergekommensten Gestalten – mit Erfolg. Nun wurde nur noch der passende Zeitpunkt festgelegt.

Auf der Liste standen: ein erfolgreicher, umgänglicher Weinhändler, Marke „Typ von nebenan“, mit einem der tiefsten Keller der Gegend. Ein begeisterter Sammler mit wenig Ahnung von der zwielichtigen Schattenseite des „Geschäfts“ und einer fast chirurgischen Selbstbeherrschung. Ein weiterer Händler – schrullig, eher ruhig und nachdenklich, mit polnischen Wurzeln. Ein fröhlicher Weinimporteur mit einer Vorliebe für alles leicht Schräge. Und schließlich ich selbst: ein überarbeiteter, heißblütiger Yankee, fast schon krankhaft fasziniert von allem, das alt genug ist, um seine Mutter zu sein. Ich muss zugeben, dass es mir nach all dem Gemetzel gar nicht so leicht fällt, mich zu erinnern, aber ich glaube, es lief ungefähr so ab …


Fortsetzung folgt … : hier.


“The Usual Suspects”


A Voyeuristic narrative of just another day in the after-life. By Justin G. Leone

What do you suppose we sommeliers do, when the last table has left, the doors locked, and the last polishing cloth is hung to dry? Why, surely, we pack up our briefcases, gingerly loosen our double-windsor-knotted ties, and make a bee-line for our anal-retentively organized, ikea-furnished flats in a semi-posh, yet-edgy- in-a-grungy-hipster-kind-of-way part of town. Only, of course, to start the tea kettle, set the record needle on the Adagio movement of Von Karijan’s Mozart No. 40 and fall asleep midway through the nightly reading of “Faust.”

Wrong. My apartment is a holy mess.

You see, like the good misfits they are, urban sommeliers have become highly adapted to circumventing their often socially-limited surroundings. Finding sanctuary in the various nooks and crannies of the city’s tucked-away restaurants and off-the-beaten-path pubs. Clutching tightly to brown-papered bundles of contraband, ushered hurriedly through backdoors and alleyway entrances by sympathetic shop-owners, as though vampiric fugitives, fleeing from the assuredly fatal break of dawn. Rather than unsuspecting local livestock, however, these creatures of the night fancy a more elusive and exotic prey; if not, at least the harvest of which, so to speak, being slightly less grotesque. Sanguine hues of crimson, garnet, ruby, and sepia, flow forth in a veritable bacchanalian bloodbath, from well-experienced bottles with appropriately tattered tickets. Their countenance suggestive more of buried treasure, or museum-quality artifact; having lived through World Wars and Revolutions, now unfurling every intoxicating detail of such accounts with each swirl, slurp, and gargle. On this particular Monday in question, the congregation was slightly less Bram Stoker in appearance. A little more…..like a rag-tag, motley crew of artists and deviants, scholars and tycoons, each with their motivations, however united in their quest to pull off a heist like no other this humble speakeasy had seen. No, this is not the beginning of some dusk-till-dawn scene of utter massacre and decadence, however the “body count” of fallen bottles may otherwise suggest. Considering how close to death all parties involved must have appeared the next morning, denying our involvement in an all-out, dock-side firefight of a night was simply not viable. When piecing together the events of the previous evening one foggy Munich morning, we begin by questioning, of course, the usual suspects.

It all starts like so; a well-known collector decides to dip in to his private stash, living this particular Monday as though it were his last. Using the tiny rib-shop known as “Red Hot,” (a particularly well-loved locale for denizens of decadence and academia alike, to congregate over robust fare, underpriced Burgundy, and overly-indulgent intellectual banter) as the front, his close friend and owner serving as liaison; charged with the duty of assembling the proper gang of 5 with which to make such a raucous coup possible. The most derelict parties were successfully reached, and the time was set. The list was almost predictable; A successful, pleasant, guy-next-door-wine dealer with one of the deepest cellars around, a quirky yet quiet and contemplative polish-born wine-runner, an avid collector and relative new comer to the seedier underbelly of “the industry,” with an almost surgical sense of control, a jovial wine importer with a predilection towards anything slightly askew, and myself; an over-worked, hot-tempered Yankee with a borderline deviant fascination with anything old enough to be my mother. Amidst all the carnage, I must admit it’s not so easy to remember, but I think it went a little like this …

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Autor

Jens Priewe
Jens Priewe hat viele Jahre als Politik- und Wirtschaftsjournalist gearbeitet, bevor er auf das Thema Wein umsattelte. Er schreibt Kolumnen für den Feinschmecker und für das schweizerische Weinmagazin Merum. Für den Weinkenner, dessen Gesellschafter er ist, hat er seit der Gründung über 200 Artikel beigesteuert. Außerdem ist er Verfasser mehrerer erfolgreicher Weinbücher (u. a. „Wein – die grosse Schule“, „Grundkurs Wein“). Er stammt aus Schleswig-Holstein, lebt aber seit fast 40 Jahren in München.

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