Bis vor drei Jahren war Sedat Sedat Aktas jung und erfolgreich. Er arbeitete als Eventmanager für Audi, Red Bull und hatte gerade eine kleine Werbeagentur in Düsseldorf gegründet. Dann kam der Tag, der alles änderte. Aktas war zu einer Geburtsfeier eingeladen und hatte sich entschlossen, eine Flasche Wein mitzubringen. Er ging in eine Weinhandlung – und stand ratlos vor den Flaschenregalen.
Welche Rebsorte? fragte der Verkäufer. „Ich konnte nichts antworten“, sagte Aktas. „
Ich wusste ja nicht, was eine Rebsorte ist.“
Trocken oder lieblich? bohrte der Verkäufer weiter. Aktas: „Ich kannte den Unterschied nicht so genau.“ Aus welchem Land soll der Wein kommen? „Da hab ich wieder nichts sagen können.“ Für den Verkäufer war der Fall damit klar. „Er meinte, ich sei wahrscheinlich in einem Supermarkt besser aufgehoben.“
Gin statt Wein
Auf der Geburtsfeier erschien Sedat Aktas mit einer Flasche Gin in der Hand und dem Vorsatz, „sich nie mehr im Leben von einem Weinverkäufer so einen Satz reindrücken zu lassen“. An dem Tag stand sein Entschluss fest, selbst Weinhändler zu werden. Er kratzte seine ganzen Ersparnisse zusammen, suchte sich einen Partner, der etwas mehr von Wein verstand als er, mietete sich in der Mainzer Innenstadt ein Büro und gründete seinen eigenen Onlineshop. Der Name: Geile Weine. Zielgruppe: Leute wie er – jung, gebildet, erfolgreich und keine Ahnung von Wein.
Heute ist Aktas nicht mehr ganz so jung, aber supererfolgreich. Schon im zweiten Jahr konnte er seinen Umsatz verdoppeln. 2016, im dritten Jahr, wird er voraussichtlich erstmals schwarze Zahlen schreiben. Angesichts der zahllosen Pleiten und der Millionenbeträge, die durch windige Online-Abenteuer im Namen des Weins in Deutschland verbrannt wurden, ist das eine kleine Sensation.
Nie ein Weinbuch gelesen
Dabei war Aktas, heute 36, der Wein nicht in die Wiege gelegt. Er ist der Sohn eines Türken und einer Mongolin. In Deutschland aufgewachsen, studierte er Medienmanagement in Mainz und machte danach im Bereich Eventmanagement Karriere. Er hatte und hat nach eigenem Bekunden nie ein Weinbuch gelesen. Sein Weinwissen ist noch heute „ziemlich lückenhaft“.
Doch wäre er Kunde in seinem eigenen Unternehmen – keiner aus dem inzwischen siebenköpfigen Team würde es merken. Geile Weine funktioniert nämlich so, „dass niemand, der dort einkauft, blöde Fragen gestellt bekommt“. Herkunft, Rebsorte, trocken oder lieblich – all das spielt keine Rolle: „Der Laie am PC bekommt über unsere Website nur die Informationen, die für ihn wichtig sind und nicht die, die Experten für wichtig erachten.“
Ein Probierpaket heißt „Anti-Winterblues“
„Allein die Kundenperspektive ist wichtig“, sagt Aktas. Wer Angst hat, sich im Dschungel des Weins zu verirren, weil er keine Ahnung hat, dem werden erstmal Probierpakete angeboten. Eigentlich nichts Neues. Bei Geile Weine aber sind die Probepakete nicht nach Anbaugebiet, Weinfarbe oder Grad der Erleuchtung des Bestellers gegliedert, sondern nach lebensnahen Themen.
Ein Probierpaket heißt „Anti-Winterblues“, andere „Wohlfühl-Paket“, „Mädelsabend“, „Kochen zu Zweit“, „Den Abend ausklingen lassen“ oder „Lesen auf der Couch“. Dabei ist es egal, ob es Rot- oder Weißweine enthält, ob Riesling oder Tempranillo, ob trocken oder halbtrocken. Überhaupt keine Rolle spielt, aus welchen Ländern die Weine kommen. „Man chillt“, sagt Aktas, „mit französischen oder italienischen Weinen nicht schlechter als mit deutschen.“
Dass viel Bauchgefühl, vielleicht auch viel Suggestion dabei ist, will er nicht bestreiten. Aber am Ende hat Geile Weine mit seiner soften Ansprache Erfolg bei den 25- bis 42-Jährigen: bei Studenten, Berufsanfängern, Jungmüttern und Jungvätern, Feierbiestern, Couchpotatoes, Lifestyle-Queens und Computerfreaks – also bei allen, die erste Gehversuche im Wein machen.
Dekantieren? Ein Ausschlusskriterium
Das Wichtigste ist für Aktas, dass die Weine qualitativ gut sind. Aber ebenso wichtig ist es, dass man sie unkompliziert trinken kann. Bedarf es langatmiger Erklärungen, um sie dem Kunden nahezubringen, ist das eine schlechte Voraussetzung für die Aufnahme ins Sortiment. Muss man den Wein erst dekantieren, um ihn genießen zu können, ist das schon fast ein Ausschlusskriterium. Wenn die Weine dagegen plakative Phantasienamen tragen statt weingesetzliche Offizialbezeichnungen, so ist Aktas das durchaus recht. Eine Rotweincuvée aus dem Osthofener Weingut Karl May, das er im Sortiment hat, heißt zum Beispiel „Blutsbrüder“, eine Cuvée vom Pfälzer Weingut Bergdolt-Reif & Neff „Olé Olá“, ein italienischer Rotwein „Mouth Bomb“, ein südafrikanischer Weißwein „The Lemongras“. Dem unerfahrenen Weintrinker sagen die Namen mehr als die Etikettenangaben.
Generation Y für Wein begeistern
Jedenfalls ist es nur wenigen Akteuren in Deutschland gelungen, die Generation Y für den Wein so zu begeistern wie Aktas mit seinem eigenwilligen Start-Up. Der Online-Marktplatz Vicampo, der aus dem Premium-Portal Wine in Black hervorgegangen ist, hat sein Anspruchsniveau schon ziemlich hoch geschraubt und langweilt seine Kunden mit steifer Fachsprache („gekonnter Holzeinsatz“, „starke Struktur“). Hawesko versucht mit TV Vino, jungen Leuten „Wein ohne Dresscode“ zu verkaufen – manchmal pfiffig, manchmal etwas verkrampft. Mit ihrem Online-Experiment 99bottles, mit denen sie Studenten für Wein begeistern wollten, waren die Hamburger vor einigen Jahren gescheitert.
Das Interview mit Sedat Aktas
weinkenner.de: Finden Sie den Namen Geile Weine nicht peinlich?
Sedat Aktas: Die meisten Freunde haben uns tatsächlich von dem Namen abgeraten. Er würde zu sehr polarisieren, unseren Auftritt negativ belasten. Die Geiz-ist-geil-Kampagne ist allen noch gut in Erinnerung. Aber wenn wir im Team zusammen saßen und neue Weine probierten, kam bei uns immer wieder spontan der Ausruf: Boah, ist das ein geiler Wein! Wir haben das Wort „geil“ also ins Positive gewendet.
weinkenner.de: Wie fanden es die Winzer, ihre Weine auf einer Plattform dieses Namens wiederzufinden?
Sedat Aktas: Ältere Winzer waren anfangs misstrauisch, jüngere fanden es okay. Heute kriegen wir bis zu 180 Flaschen monatlich ungefragt zugeschickt mit der Frage, ob wir den Wein ins Programm von Geile Weine aufnehmen können.
weinkenner.de: Wie geil muss ein Wein sein, damit er ins Sortiment kommt?
Sedat Aktas: Wir haben die Zielgruppe der 25- bis 42-Jährigen im Auge, zu der wir selbst gehören. Diese Zielgruppe hat ein geringes bis gar kein Weinwissen und nur wenig Erfahrung mit Weinen. Ihnen bieten wir Probierpakete an, damit sie erstmal hineinschmecken können in das, was wir geile Weine nennen.
weinkenner.de: Das machen alle Weinhändler und Onlineshops auch…
Sedat Aktas: Aber bei uns machen Wein-Abos mit gemischten Weinen 40 Prozent des Umsatzes aus. Das ist ein Unterschied und zeigt: Die Leute dieser Altersstufe sind noch auf der Suche nach dem eigenen Geschmack. Dabei wollen wir ihnen helfen, aber nicht, indem wir ihnen oberlehrerhaft und mit weintechnischen Begriffen erklären, was gut und angesagt ist. Geil ist für uns, was schmeckt.
weinkenner.de: Und woher wissen Sie, was schmeckt?
Sedat Aktas: Indem wir unsere Weine in einem großen Kreis von Personen verkosten und dann über sie abstimmen. Dabei kennen wir nur drei Urteile: Schmeckt. Kann man trinken. Schmeckt nicht. Wer die meisten „schmeckts“ bekommt, hat eine Chance, ins Sortiment aufgenommen zu werden. Wichtig ist, dass wir die Weine nicht nur von unseren eigenen Mitarbeitern prüfen lassen, sondern auch wechselnde externe Personen zu den Tastings einladen.
weinkenner.de: Welcher Weintyp schmeckt Ihren Kunden am besten?
Sedat Aktas: Der größte Teil unseres Sortiments besteht aus deutschen Weinen, vor allem weißen. Sie machen bis zu 65 Prozent unseres Angebots aus. Es muss gar nicht Riesling sein. Sauvignon blanc kommt noch besser an, auch Scheubrebe haben wir viel im Angebot. Alles aromatische Sorten, die sich für den Einstieg besonders gut eignen. Bei den Rotweinen liegen die Spanier vorn…
weinkenner.de: …weil man in Spanien für relativ wenig Geld vollmundige Weine bekommt.
Sedat Aktas: Der günstige Preis spielt da sicher eine Rolle. Aber wir haben auch ein paar deutsche Rotweine, die gut laufen, etwa die Rotweincuvée Einzylinder aus dem Ingelheimer Weingut Wasem. Ihr Bekanntheitsgrad lag bei Null, als wir sie aufnahmen. Mittlerweile ist sie zum Topseller geworden. Auch andere deutsche Rotweine laufen gut, kosten dann aber auch gleich um die 15 Euro.
weinkenner.de: Es fällt auf, dass Sie ausschließlich mit Winzern und Weingütern aus der zweiten und dritten Reihe arbeiten. Kein einziger VDP-Betrieb ist bei Ihnen gelistet.
Sedat Aktas: Das ist die typische Experten-Sicht. Für die Kunden-Zielgruppe, die wir anpeilen, spielt Experten-Lorbeer keine Rolle. Wir werben nicht mit Parker-Punkten und Goldmedaillen. Unsere Winzer sind meist jung, gut ausgebildet und gehen neue Wege bei der Weinherstellung. Die Qualität ihrer Weine ist super. Ihr Handicap ist, dass sie als Flaschenabfüller noch nicht groß in Erscheinung getreten sind. Ihre Väter haben meist noch Fasswein verkauft. Aber ihr Auftritt ist bereits kreativer als der vieler berühmterer Weingüter. Nehmen Sie Juliane Eller aus Alsheim, Lucas und Achim Bicking aus Gauersheim, Uli Metzger aus Grünstadt – sie alle lassen sich von Top-Agenturen beraten. Da stimmt alles vom Etikett bis zum Wording.
weinkenner.de: Stimmt. Manches VDP-Weingut könnte von diesen jungen Winzern lernen. Aber auch Geile Weine hat eine Ansprache, die nicht dem Kulturgut Wein entspricht. Einen Chardonnay preisen Sie mit den Worten an: „cremig, samtig, voll die Granate“. Einen Rotwein charakterisieren Sie so: „Heidelbeere – Bitterschoki – Schalalala“. Und: „Läuft zur Bratwurst beim Fusi Gucken genauso gut wie an der feinen Dinner-Tafel.“ Ist das nicht ein bisschen strange?
Sedat Aktas: Wir müssen den jungen Weintrinker auch sprachlich da abholen, wo er zu Hause ist. Über Wein, der schmeckt, sollte man so reden dürfen wie über andere Dinge des Alltags. Mit Fachausdrücken kann man vielleicht den Wein selbst beschreiben, aber nicht das Gefühl, mit dem man ihn trinkt. Deshalb wollen wir weg von der technischen Weinsprache. Die schüchtert junge Weintrinker nur ein, blamiert sie wegen ihrer Unwissenheit.
weinkenner.de: Lesen auf der Couch, Gemeinsames Kochen, Zweisamkeit, Erstes Date – sind das die Kategorien, über die man junge Leute zum Wein bringt?
Sedat Aktas: Das sind Momente des täglichen Lebens, die sich fürs Weintrinken eignen. Jeder kennt sie, jeder verbindet sie mit einer bestimmten Stimmung. Deshalb schlagen wir jeweils drei Weine für so einen Moment vor, von denen wir glauben, dass sie zu der Stimmung passen. Die Leute probieren dann aus, ob die Zuordnung funktioniert.
weinkenner.de: Funktioniert sie?
Sedat Aktas: Meistens, jedenfalls solange der Kunde noch in der Suchphase ist und sich nicht für einen bestimmten Wein entschieden hat.
weinkenner.de: Was sind das für Menschen, Ihre Kunden? Wo leben sie?
Sedat Aktas: In Großstädten wie Hamburg, Berlin und München machen wir 60 Prozent unseres Umsatzes. Das heißt: Unsere Kunden sind ganz klar urban geprägt. Schnittstellen zur Provinz und zur Landwirtschaft haben die meisten nicht. Umso mehr bewundern sie junge Winzer, die sich in den Reben und im Kellern austoben.
weinkenner.de: Wo liegt das durchschnittliche Preisniveau einer Flasche Wein, die über Ihren Onlineshop bestellt wird?
Sedat Aktas: Bei 5,16 Euro. Das klingt nach wenig. Vergessen Sie aber nicht, dass eine Flasche im deutschen Lebensmitteleinzelhandel und im Discount durchschnittlich 2,71 Euro kostet. Und vergessen Sie auch nicht, dass 45 Prozent unserer Kunden mehrmals in der Woche Wein trinken. Mehr gibt das Budget bei jungen Leuten oft nicht her.
weinkenner.de: Das sind ja Hardcore-Trinker…
Sedat Aktas: Der durchschnittliche Deutsche trinkt nicht annähernd so viel Wein wie unsere Kunden. Das beweist, dass Wein und Genuss ein wichtiges Thema in dieser Altersgruppe ist. Außerdem beobachten wir ein deutliches Upstreaming bei der Weinauswahl. Der Anteil der Weine zwischen 10 und 20 Euro steigt. Wir beobachten zum Beispiel, dass mehr Rotwein gekauft wird, je älter die Kunden werden. Da müssen wir uns anstrengen mitzuhalten.
weinkenner.de: Planen Sie in Zukunft auch stationäre Weinläden zu eröffnen?
Sedat Aktas: Nein, unsere Kunden sind internetaffin. Aber wir wollen unsere Offline-Aktivitäten verstärken: Weinproben in besonderen Locations in deutschen Großstädten, mit unseren Winzern, mit kleinen Snacks, einmal im Jahr. Unsere Kunden müssen nur Durst und Lust mitbringen.
weinkenner.de: Haben Sie Ihre eigenen Wissenslücken beim Wein inzwischen geschlossen?
Sedat Aktas: Ich habe immer noch kein Weinbuch gelesen und kann immer noch keine Rebsorten im Wein identifizieren. Manchen Experten fällt die Kinnlade runter, wenn er sowas hört. Aber ich will mir meine Naivität bewahren.