Dem Weinjahrgang 2011 ging in ganz Europa vom Frühjahr weg der Ruf voraus, dass es eine frühe Lese geben werde. So ist es gekommen. Am 18. August fiel im Anbaugebiet von Graves der Startschuss für die Ernte. Auf Château Carbonnieux wurden die ersten Sauvignon-Trauben mit 13 Vol.% eingebracht: „Seit 1893 haben wir nicht mehr so früh gelesen“, berichtet Eric Perrin, der Régisseur. Am 25. August begann die Sauvignon blanc-Lese für den trockenen G von Château Guiraud in Sauternes. Im Burgund wurden am 28. August bereits die ersten Pinot Noir-Trauben eingebracht. „Das ist das sechste Mal in den letzten 300 Jahren, dass wir so früh lesen“, konstatiert Christine Monany vom Bureau Interprofessionel des Vins de Bourgogne. Die letzten fünf Male waren 1719, 1822, 1893, 2003 und 2007 – eine auffällige Häufung in den letzten zehn Jahren.
Ursache der frühen Lese ist die frühe Blüte
In Pomerol und St. Emilion rechnet man Mitte nächster Woche mit dem Erntebeginn für die Merlot. In der Champagne ist die Traubenernte schon seit dem 20. August in vollem Gange. Ursache für die außergewöhnlich frühe Lese ist in allen Fällen nicht etwa der heiße, trockene Sommer, sondern die frühe Blüte, ausgelöst durch einen extrem warmen April und Mai. Der Vegetationsvorsprung – im Juni sprachen viele Winzer noch von drei Wochen – hat sich im Laufe des durchwachsenen Sommers eher etwas verringert.
In Apulien wurde schon im Juli geerntet
Noch früher mussten die Winzer in Südeuropa die Trauben einbringen. Auf Donnafugata in Sizilien wurden die ersten Chardonnay-Trauben bereits am 10. August in perfektem Zustand gelesen, in Apulien sogar schon Ende Juli – 14 Tage früher als normal. In der Toskana sind die Trauben im Vergleich zu einem normalen Jahr 3 Wochen voraus. Auf Rocca delle Macie im Chianti classico-Gebiet war der Merlot am 20. August schon komplett gelesen. Im Unterschied zu 2003, als die Reben unter enormem Trockenstress litten, sind die Reben diesmal vital und die Trauben kerngesund.
Auch im Schweizer Kanton Wallis waren die Winzer früh dran: In der vergangenen Woche konnten Pinot Noir-Trauben mit sagenhaften 110 Grad Oechsle eingebracht werden. Was den Zucker betrifft, haben solche Trauben schon das Stadium der Überreife erreicht. Fraglich ist indes, ob auch Aromen und Gerbstoffe ausreichend ausgereift waren. Denn diese Komponenten benötigen ein langsames Ausreifen in die kühlere Jahreszeit hinein.
In Deutschland beginnen ebenfalls viele Winzer schon mit der Lese. Im rheinhessischen Westhofen rückten bereits am 6. August die Vollernter aus, um vollreife Ortega-Trauben von den Rebstöcken zu schütteln. Sie werden zu Federweißem verarbeitet. Am Kaiserstuhl in Baden etwa hat das Weingut Bercher bereits mit der Lese von Spätburgunder für Sekt-Grundwein begonnen. Da man im Sekt eine höhere Säure wünscht, wird der Lesetermin für dessen Grundwein üblicherweise zwei, drei Wochen vorgezogen.
2011 – ein Jahr der Extreme in Deutschland
Vom Dienstleistungszentrum Weinbau im rheinhessischen Oppenheim kam die Empfehlung, frühreife Sorten nicht länger hängen zu lassen. Arno Schembs vom Weingut Schembs aus Worms-Herrnsheim (Rheinhessen) plant, nächste Woche mit der Lese des Frühburgunders zu beginnen. Für ihn ist 2011 bis jetzt ein Jahr der Extreme gewesen: „Bis Ende Juni habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich das erste Mal in meinem Winzerleben zum Mittel der Bewässerung greifen muss. So trocken war es. Inzwischen ist so viel Regen gefallen, dass ich darüber nachdenke, ob ich die Weinberge irgendwie drainieren kann.” Allein in den letzten zehn Tagen sei etwa ein Fünftel des üblichen Jahresniederschlages gefallen. Jetzt hoffe er noch auf ein paar Tage Sonnenschein.
Nicht ganz so extrem war der Sommer in Franken. So berichtet Helga Sauer vom Weingut Rainer Sauer aus Escherndorf in Franken, dass nächste Woche als erste Sorte der frühreife Bacchus in den Keller gebracht werde, danach der Müller-Thurgau. „Die Silvaner in unserer Spitzenlage Escherndorfer Lump sind zwar schon süß, aber wir werden mit der Lese noch warten. Die Reben sehen gut aus, und die Trauben sind gesund.”
Unter Klimakapriolen hatten die fränkischen Winzer im Jahr 2011 mehr als genug zu leiden. Bekanntlich zerstörte ein Spätfrost Anfang Mai in vielen Parzellen den Austrieb. Helga Sauer berichtet von einem Kollegen, der in den letzten Tagen Frühburgunder von einer frostgeschädigten Anlage gelesen hat – gerade einmal 200 Liter von einer 20 Ar großen Parzelle, nur rund ein Fünftel des Normalertrags.
August-Hagel an der Mittelmosel
Bis zum vergangenen Freitag sahen die Winzer in der Pfalz und an der Mosel erwartungsvoll einem in Menge und Güte vielversprechenden Herbst entgegen. Doch dann krachte es. Tennisballgroße Eisgeschosse haben im Landkreis Bernkastel nicht nur Häuser abgedeckt und Autos beschädigt, sondern auch in den Weinbergen Schneisen der Zerstörung geschlagen. „Die Schäden an Gebäuden und Autos sind ja reparabel und weitgehend von Versicherungen abgedeckt. Aber im Weinberg sieht es teilweise katastrophal aus”, gibt Thomas Haag vom Weingut Schloss Lieser sichtlich bewegt zu Protokoll.
Der Hagel hat vor allem Brauneberg, Wehlen und Graach an der Mittelmosel getroffen. Auch das für seinen kristallklar feinen Riesling bekannte, nur 4 Hektar große Weingut von Willi Schaefer in Graach ist betroffen. Juniorchef Christoph Schaefer äußert dennoch Hoffnung, dass der Herbst noch zu einem guten Ende gebracht werden könne: „Der Reifestand ist richtig, richtig gut. Wir haben jetzt halt eine Runde Extra-Arbeit vor uns, um die angeschlagenen Trauben wegzuschneiden. Natürlich hoffen wir ganz stark, dass es trocken bleibt, damit die verbleibenden Trauben gesund bleiben. So ist die Natur, damit muss man leben.”
An Mosel und Saar noch alles drin
Auch die Weinberge in Ürzig und Erden, Piesport, Trittenheim und Pünderich haben gelitten – wenngleich offenbar nicht ganz so stark. Die untere Mosel sowie die Nebenflüsse Saar und Ruwer scheinen weitgehend verschont geblieben zu sein. „Über die Schäden an der Mittelmosel haben wir noch keinen hinreichenden Überblick, manche Schäden zeigen sich ja auch erst nach einigen Tagen”, gibt sich Solange Heyer-Berrisch vom Weingut Reichsgraf von Kesselstatt zurückhaltend. „Aber beispielsweise am Scharzhofberg in Wiltingen an der Saar sieht alles schön aus, da ist – toi, toi, toi – auch noch ein Bilderbuchherbst drin.”
Im Rheingau zeigen die Reifemessungen nach wie vor einen frühen Jahrgang an. Professor Hans Reiner Schultz von der Forschungsanstalt Geisenheim hat ausgerechnet, dass der Reifeverlauf des 2011er-Jahrgangs nur sieben bis zehn Tage hinter dem bisherigen Rekordjahr 2003 liegt. „Die Säurewerte sind jetzt schon tiefer als zum Erntezeit im letzten Jahr. Niederschläge zusammen mit hohen Temperaturen wären jetzt allerdings problematisch für die Fäulnis. Bei dem hohen Reifegrad hängt ein Damoklesschwert über uns. Hoffen wir also, dass uns noch 6 Wochen mit kühlem und trockenem Wetter erhalten bleiben, dann wären wir durch!”
Schultz weist auch darauf hin, dass manche Weinbauregionen in Nordamerika ganz im Gegensatz zu Europa einen der kühlsten Jahrgänge seit Jahrzehnten erleben: „Im Okanagan Valley, Kanada, begannen sich erst diese Woche die ersten Pinot Noir-Beeren zu verfärben – so variabel ist die Welt.”