Das Hoch, das uns derzeit zum Schwitzen bringt, heißt „Gertraud“. Es beschert uns am Montag und Dienstag Temperaturen von bis zu 35 Grad Celsius. Hochsommer-Hitze. Normalerweise erreichen die Temperaturen erst zwischen dem 15. Juli und dem 15. August ihren Höhepunkt. Was diejenigen, die jetzt ihren Urlaub gebucht haben, freut, ruft bei Winzern gemischte Gefühle hervor. Denn vielerorts sind die Reben schon weit entwickelt. In Deutschland beträgt der Vegetationsvorsprung (im Vergleich zu einem normalen Jahr) etwa 20 Tage. Wenn die Entwicklung so weitergeht (und sie geht 2011 nach Meinung vieler Experten so weiter), werden die Trauben schon früh in die Reifephase eintreten. Das heißt: Die Zuckerbildung beginnt. Die Öchslegrade steigen. Die Folge wäre ein früher Lesebeginn.
Frühester Lesebeginn seit 1893
Was ist so schlimm an einer frühen Lese? Zunächst einmal gar nichts. Das ganze Erntegeschehen würde sich nur nach vorne verlagern. Doch wenn man genau hinschaut, ist eine frühe Lese mit Risiken verbunden. De facto bringen Jahre mit früher Lese selten so gute Weine wie Jahre mit einer späten Lese.
Reifephase im Zeitraffer
Das derzeitige Hoch „Gertraud“ bewirkt zunächst einmal nur, dass die Rebe früher in die Reifephase eintritt als sonst – in diesem Jahr wahrscheinlich schon Mitte Juli. Was dann passiert, wird man sehen. Doch das wahrscheinliche Szenario lässt sich jetzt konstruieren: Die Trauben erreichen schon früh ihre Zuckerreife, sind aber noch nicht reif. Das heißt: Die Apfelsäure der Weißweine ist noch chlorophyllig, das Tannin der Rotweine noch pelzig. Der Winzer steht vor einem Dilemma. Startet er mit der Lese, schmeckt der Wein sauer und hart. Lässt er die Trauben hängen, riskiert er, dass die Öchslegrade weiter steigen.
Der Jahrgang 2003 lässt grüßen
Gute Winzer lassen ihre Trauben hängen und nehmen in Kauf, dass der spätere Alkoholgehalt des Weins hoch liegt. Vor allem Rotweinwinzer tun das. Rotweine mit „grünem“ Tannin wären kein Genuss. Und wenn sie dann trotz früher Lese noch 13 oder 13,5 Vol.% aufweisen, sinkt der Spaßfaktor proportional zum Alkoholgehalt. Der Jahrgang 2003 lässt grüßen! Er brachte vollmundige, aber unreif schmeckende Rotweine.
Nicht besser waren 2003 die Rotweine jener Winzer, die im Glauben, die Sonne werde es schon richten, ihre Spätburgunder, Cabernet Sauvignon & Co. möglichst lange hängen ließen. Sie haben am Ende zwar Weine mit reifem Tannin, aber marmeladiger, „gekochter“ Frucht und 14,5 Vol.% Alkohol bekommen. Übrigens: Diese 2003er Weine werden jetzt massenweise auf Auktionen entsorgt. Achtung!
Was soll der Winzer in dieser Lage also tun? Zunächst einmal auf einen kühleren Juli und einen moderaten August hoffen, damit die Vegetations- und später die Reifephase verlangsamt wird. In der Endphase muss er versuchen, die Lese hinauszuzögern, bis Apfelsäure und Tannine reif sind – aber nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag!
Das Glück guter Lagen
Wann genau die Lesehelfer rausgeschickt werden, hängt von der individuellen Situation eines jeden Weinguts oder Château ab. Wer gute Lagen hat, wird, wenn das Wetter nicht plötzlich kippt, auch 2011 vermutlich einen guten Wein erzeugen. Denn gute Lagen heißen deshalb gut, weil die Zuckerreife und die phenolische Reife verhältnismäßig parallel verlaufen. Also Lagen zum Beispiel, in denen die Temperaturen nachts abkühlen, so dass ein Teil des tagsüber gebildeten Zuckers wieder verstoffwechselt wird. In solchen Lagen kann man die Trauben hängen lassen, ohne dass der Zucker steigt.
Auch die Winzer können eine Menge dazu tun, dass ihr Weinberg auch in wärmemäßigen Rekordjahren wie 2011 im Gleichgewicht bleibt. So können die Winzer jetzt Blätter auf der „Morgenseite“ der Reben (die von der Vormittagssonne beschienen werden) herausbrechen, um die Laubwand zu verkleinern und so verhindern, dass zu schnell zu viel Zucker gebildet wird (die Einlagerung des Zuckers in die Trauben erfolgt über Photosynthese, also über die Blätter). Wein entsteht zwar im Weinberg, aber nicht von selbst – guter Wein jedenfalls nicht.