Histamin ist eine Substanz, die in vielen Lebensmitteln vorkommt: in einigen Lebensmitteln in geringem Maße (Erdbeeren, Frischkäse, Fisch), in anderen in hohem Maße (Banane, Spinat, Tomaten, Salami, gereifter Hartkäse). Normalerweise wird Histamin im Körper durch ein Enzym abgebaut, das in der Dünndarm-Schleimhaut produziert wird: Diaminooxydase. Menschen, bei denen die Produktion dieses Enzyms eingeschränkt ist, reagieren auf Histamin deshalb allergisch: Es löst bei ihnen Hautrötungen, Juckreiz, Quaddeln, Übelkeit, Durchfall, Nasenlaufen, Magenkrämpfe, Asthma, Kopfschmerzen, Migräne aus. 30 Prozent der Menschen leiden amerikanischen Untersuchungen zufolge unter einer Histamin-Allergie.
Auch Weine können Histamin enthalten, insbesondere Rotweine. Das Histamin entsteht nämlich während der Vergärung des Weins. Konkret: beim biologischen Säureabbau – ein Vorgang, der bei Rotweinen zwingend erforderlich ist. Bei diesem auch als malolaktische Gärung bezeichneten Vorgang wird die harte Apfelsäure des Weins in weichere Milchsäure umgewandelt. Ohne „Malo“ wäre Rotwein ungenießbar.
Aber bei der „Malo“ passiert noch mehr. Die Milchsäurebakterien transformieren zum Beispiel Aminosäure zu Aminen, etwa zu Tyramin, Putrescin, Cadaverin, Spermidin, Diaminopropan oder zu Histamin. Histamin führt, wenn der Körper es nicht abbaut, zu einer Gefäßerweiterung. Blut strömt in die Gefäße, führt zu Rötungen auf der Haut oder Druck im Gehirn, einem der am stärksten durchbluteten Organe des Menschen.
Die Behauptung, nur französische Weine oder nur Chianti oder nur bestimmte andere Weine führten zu Kopfschmerz, ist daher ebenso eine Mär wie der unausrottbare Glaube, der Schwefel im Wein sei Ursache des Unwohlseins (in jeder Packung Wurstaufstrich befinden sich mehr Sulfite als in der gleichen Menge Wein).
Auch Hennie van Vuuren, Professor der Biotechnologie am Wine Research Center der University of British Columbia im kanadischen Vancouver, gehört zu den Menschen, die unter den schmerzhaften Folgen des Weingenusses leiden. Um nicht auf Rotwein verzichten zu müssen, begann er bereits vor mehr als 15 Jahren damit, die Entstehung des Histamins im Wein zu erforschen und über Wege nachzudenken, die unliebsame Substanz aus dem Wein zu entfernen. Genauer gesagt: zu verhindern, dass Histamin überhaupt entsteht.
2003 hat er die Lösung gefunden: eine Hefe, die sowohl die alkoholische als auch die malolaktische Gärung bewerkstelligt und als Resultat einen Wein hervorbringt, der völlig frei von biogenen Aminen ist: Kopfschmerz ade.
Der wissenschaftliche Name für die Wunderhefe lautet ML01. Einziger Schönheitsfehler: Sie ist eine genetisch modifizierte Hefe. Doch im Gegensatz zu vielen anderen genveränderten Organismen enthält sie keine Antibiotika-resistenten Markergene. Außerdem sind in ihr weder weinfremde Gene noch weinfremde Proteine enthalten. Sie ist, versichert van Vuuren, ausschließlich aus Elementen konstruiert, die auch am natürlichen Gärprozess des Weins beteiligt sind.
In Kanada, Kalifornien und in Südafrika ist ML01 zum Gebrauch zugelassen, in Europa nicht. „Viele kanadische und kalifornische Weine werden bereits mit ML01-Hefen vergoren, ohne dass der Konsument es weiß“, berichtet van Vuuren. „Er merkt nur, dass er von diesen Weinen keine Kopfschmerzen bekommt.“
Seit Langem bemüht sich der Professor, die EU-Behörden von der Wirksamkeit und Ungefährlichkeit seiner Erfindung zu überzeugen. Am liebsten sähe er es, wenn auf dem Etikett eines jeden Weins stehen müsste, ob dieser biogene Amine enthält oder nicht. Dann wüssten die Konsumenten, ob der Wein ihnen Kopfschmerzen verursacht.
Doch die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vorschlag aufgenommen wird, ist gering. Die Schweiz, für die die Histamin-Angabe bis vor kurzem galt, hat gerade auf Druck der OIV, der in Paris ansässigen obersten europäischen Weinbehörde, diese Etikettvorschrift gekippt.
Umstritten ist die Wunderhefe dennoch – ihrer segensreichen Wirkungen zum Trotz. Vor allem die Gegner der Gentechnologie lehnen sie ab. Sie fürchten unkalkulierbare Folgen durch den Einsatz dieser Technologie. Van Vuuren hat eine eigene Website gelauncht, um die Argumente seiner Gegner zu widerlegen. In einem Interview mit der amerikanischen Wein-Blogger-Website reign of terroir kontert er: „Ich finde es merkwürdig, dass die Menschen sich genverändertes Insulin in die Venen spritzen, um ihre Diabetes zu bekämpfen, aber sich weigern anzuerkennen, dass migräneanfällige Menschen vom ML01-vergorenem Wein profitieren würden.“
Andere weisen darauf hin, dass van Vuuren das Patent auf ML01 besitzt (zusammen mit University of British Columbia) und damit finanzieller Nutznießer seiner Erfindung ist. Der Professor streitet das nicht ab, sagt aber: „Dies ist der erste genveränderte Mikroorganismus, der für das Wohlergehen der Konsumenten und nicht für das Wohlergehen von Konzernen gemacht ist.“
Wieder andere bezweifeln, dass es überhaupt einen nachweisbaren Zusammenhang gibt zwischen Kopfschmerzen und Histamin. Und sie führen dabei den Professor selber an, der zwar behauptet, histamin-allergisch zu sein, gleichzeitig aber als seine Lieblingsweine 1953 Chateau Margaux, 1961 Lafite, 1978 Guigal La Mouline und 1989 Haut Brion angibt – Weine, die mit Sicherheit noch nicht mit ML01-Hefen vergoren wurden und ihm offenbar gut bekommen sind.
„Glücklicherweise bekomme ich von reifen Rotweinen keine Kopfschmerzen“, erklärt van Vuuren den vermeintlichen Widerspruch. „Ich vermute, dass biogene Amine nicht über einen längeren Reifezeitraum stabil bleiben.“
„Genhefe holt den Kopfschmerz aus Rotwein und Chardonnay“, jubelte jedenfalls die Tageszeitung The Vancouver Sun kürzlich und feierte den heimischen Professor enthusiastisch. Chardonnay wird meistens wie ein Rotwein vergoren, also ebenfalls eines biologischen Säureabbaus unterzogen. Folglich kommt es zumindest bei Holzfass-vergorenen Chardonnays häufig zu Histaminbildung.
Übrigens: Auch andere Weißweine als Chardonnay können Histamine enthalten und damit Kopfschmerzen verursachen. Viele Elsässer und manch österreichischer Riesling wird mit „Malo“ vergoren. Und auch bei deutschem Weißwein kann es passieren, dass der Wein ungewollt einen biologischen Säureabbau (oder Teilabbau) macht – wenn etwa die Apfelsäure von Natur aus sehr hoch ist und der Kellermeister es versäumt, den Wein nach der Gärung rechtzeitig zu stabilisieren.
Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Riesling, Silvaner, Weißburgunder und andere deutsche Weine biogene Amine enthalten, ist wesentlich geringer. Eine „Malo“ ist hierzulande unerwünscht, und die Kellermeister tun alles, um sie zu verhindern.