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Wein aus Argentinien: Konsumverzicht wegen langen Transportwegs?

von weinkenner

Der Autor heißt Christoph Raffelt, lebt in Königswinter bei Bonn und betreibt dort ein Atelier für Webdesign und Visuelle Kommunikation. Wein ist seine Leidenschaft. Er kennt viel, er weiß viel, er berät nach eigener Auskunft Weingeschäfte und Hotels in puncto Wein. Er hat sogar einen eigenen Weinshop im Internet. „Ihre Weine werden mit UPS Carbon Neutral Shipment so umweltbewußt wie möglich geliefert“, verspricht er.

Raffelt ist 39 Jahre alt und gehört jener Generation Bio an, die heute die Suppe auslöffeln muss, die die Fünfzig-, Sechzig-, Siebzigjährigen ihr hinterlassen hat. Zunächst einmal Respekt vor der größeren Sensibilität, die diese Generation im Vergleich zur älteren in Umweltbelangen an den Tag legt.

Spaßweine, aber mit verheerender Umweltbilanz

Der Beitrag, den Raffelt am 26. Juli 2011 auf www.originalverkorkt.de gepostet hat, hat mich jedoch nachdenklich gestimmt. Unter der Überschrift „Umweltbilanz einer Flasche Wein“ fragt er sich „ernsthaft“, ob man Übersee-Weine kaufen solle. Also Weine aus Kalifornien, Südafrika, Australien, Chile und speziell aus Argentinien. Er hatte gerade ein paar Weine des Schweizers Dieter Meier erstanden, des ehemaligen Sängers der Schweizer Pop-Gruppe Yello, der heute in Argentinien lebt und in Agrelo Alto bei Mendoza ein Bio-Weingut betreibt. Seine Wein tragen zwei Bio-Siegel und hätten, so Raffelt, auch wirklich Spaß gemacht: „Das wäre alles gut und schön…wäre da nicht die verheerende Umweltbilanz.“

Dann rechnet Raffelt vor, wie stark der Transport einer Flasche Wein aus Argentinien nach Europa die Umweltbilanz belastet:

  • Die 12 000 Kilometer Schiffstransport von Argentinien nach Rotterdam schlagen bei ihm mit 588 Gramm CO2 zu Buche.
  • Hinzu kommen rund 2000 Kilometer LKW-Transport vom Weingut zu einem der argentinischen Überseehäfen. Bei 200 Gramm CO2-Ausstoß pro kg/1000 km kommen so noch einmal 400 Gramm CO2 dazu. Macht summa summarum 988 Gramm Kohlendioxid, die allein beim Transport der Flasche anfallen.

Ich habe die Rechnung überprüft und kann sagen: Sie stimmt mit einer Toleranz von +/- zehn Prozent. Die Frage lautet nur: Was bedeuten 988 Gramm CO2?  Viel oder wenig?

Eine Shoppingtour mit dem Opel Vectra emittiert mehr

Auf den ersten Blick erschreckend viel. Doch bevor man den Transport von Wein über eine so große Distanz verdammt, sollte man den Wert in die richtige Relation stellen. Wer mit einem Opel Vectra B2, einem der sparsamsten Mittelklasse-Autos, die es auf dem Markt gibt, drei Kilometer zum Einkaufen fährt und drei Kilometer zurück, emittiert bei dieser einen Shoppingtour schon mehr CO2 als die argentinische Weinflasche auf ihrem Weg zum Konsumenten. Das sparsame Opel-Modell bläst nämlich 168 Gramm CO2 pro gefahrenem Kilometer in die Luft. Wohlgemerkt: ecotech-Version, neuestes Modell, leistungsschwächster Motor. Wer ein älteres Vectra-Modell fährt, erreicht die 988 Gramm-Grenze schon auf dem Weg von der Garage zur übernächsten Verkehrsampel.

Soviel zur Frage, ob 988 Gramm CO2 viel oder wenig sind. Was ich jedoch für gefährlich halte, ist die der Rechnung innewohnende Logik. Wenn nämlich jedes Gramm CO2, das ausgestoßen wird, ein Gramm zu viel ist, müssen wir ständig unseren Taschenrechner dabei haben. Permanent überlegen, woher der Kautschuk kommt, der sich in den Sohlen unserer Converse All Stars befindet, die wir am Fuß tragen. Uns immer bewusst sein, dass wir mit jedem Riegel Milka-Schokolade, den wir essen, dieser Welt einen weiteren Sargnagel hinzufügen, weil der Transport des Kakaos zu uns so emissionsintensiv ist.

Wer nach dieser Logik lebt, lebt nicht. Und wenn er dennoch leben und gelegentlich auch Wein trinken möchte, bleibt ihm nur, seinen Wein beim Winzer selbst abzuholen und den Weg dorthin per Fahrrad zurücklegen – sofern er sicher ist, dass der Stahlrahmen des Rades nicht aus Taiwan stammt.

Äpfel aus Chile verbrauchen 7400 Gramm CO2

Natürlich darf, ja muss die Frage gestellt werden, ob es Sinn macht, Produkte aus Übersee nach Europa zu verschiffen, die wir hier selbst haben. Ein Kilo Äpfel per Flugzeug aus Chile nach Europa zu transportieren, verursacht einen CO2-Ausstoß von 7400 Gramm, ein Kilo Äpfel vom Bodensee auf den Wochenmarkt nach Frankfurt zu bringen, dagegen nur 760 Gramm. Ein Riesenunterschied!

Wer öko-bewusst lebt, sollte seine gesamte Welt, in der er sich aufhält, auf den Prüfstand stellen und nicht nur ein Produkt willkürlich diskriminieren, um sein Gewissen zu entlasten. Übersee-Weine von Einkaufszettel zu streichen, aber mit dem Auto zum Petersiliekaufen fahren – so ein Öko-Engagement ist nicht glaubwürdig. Und es geht nicht allein ums Auto. Mein Mac ist in China gefertigt. Die Pflastersteine in meinem Vorgarten kommen aus Indien. Auf dem Abnäher meines Stenström-Oberhemds entdecke ich den Hinweis „Made in Estonia“. Und der original-italienische Parmesan wird aus original Allgäuer Milch hergestellt, die als Käse zurück nach Deutschland kommt. Indem ich mir dieses Produkt, das ebenso gut in Deutschland hergestellt werden könnte, über die Pasta reibe, mache ich mich schuldig, 200 Gramm CO2 in die Luft zu pusten, allein durch den sinnlosen Transport.

Generation Bio lebt gut in der falschen Welt

Zugegeben: Die Welt, in der die Warenströme von Nord nach Süd, von Ost nach West fließen, ist nicht von der Generation Bio geschaffen worden, sondern von der Generation vor ihr. Aber mir scheint, dass die Generation Bio heute gut in ihr lebt – um nicht zu sagen: von ihr lebt. Vermutlich auch Christoph Raffelt, obwohl ich ihn persönlich nicht kenne. Ich weiß nicht, ob er Auto oder Rad fährt. Aber wenn ich auf seiner Homepage den Link zu raffelts atelier anklicke, dann erscheint als neueste Arbeit, die er gestaltet hat, das Buch „Autodesign International“.

Ich kritisiere das nicht. Deutschland ist ein Land, das vom Export lebt, von Autos, Maschinen und anderen Ingenieurprodukten sowie von den Dienstleistungen um sie herum. Auch die Generation Bio verdankt ihre Jobs direkt oder indirekt der Exportindustrie, und ich habe nicht den Eindruck, als empfinde sie ihr Leben als ein Joch, das nur schwer zu ertragen ist.

Als Deutscher ist Vorsicht angebracht

Ich will auch keine Denkverbote. Selbstverständlich ist Skepsis angebracht ob der Auswüchse des globalen Welthandels mit seinen verheerenden Folgen für die Klimaentwicklung weltweit. Doch wer Teil einer Exportnation wie Deutschland ist, sollte vorsichtig sein mit Überlegungen, den Export anderer Länder in Frage zu stellen, ohne den viel größeren und klimaschädlicheren eigenen Export in den Denkprozess einzubeziehen. Zumal wenn es um Länder wie Argentinien geht, das nur wenig Bodenschätze besitzt und außer Tango, Fußball und Landwirtschaft, speziell Wein, wenig Exportfähiges vorzuweisen hat.

Um seine kümmerliche Handelsbilanz zu verbessern, hat die argentinische Regierung kürzlich Importbeschränkungen für deutsche Autos erlassen. BMW hat sich daraufhin bereit erklärt, Reis und Soja aus Argentinien abzunehmen. Adidas importiert Möbel, Porsche Olivenöl und Wein aus Argentinien. Normale Barter-Geschäfte, wie Ökonomen sagen. Vielleicht kommen Ikeas Billy-Regale statt aus Tschechien künftig mit dem Containerschiff aus Südamerika, damit Adidas seine Turnschuhe dort verkaufen darf. Da geht es dann allerdings um mehr als 998 Gramm CO2.

Besitzt argentinischer Wein ein „Alleinstellungsmerkmal“?

Nun zielen Raffelts Überlegungen gar nicht darauf, den globalen Welthandel allgemein in Frage zu stellen. Er  fragt lediglich, „ob das, was drin ist, sich wirklich lohnt. Ob der Wein also, wie man heute neudeutsch sagt, ein Alleinstellungsmerkmal aufweist“ – der argentinische Wein. Wer so fragt, hat die Antwort schon parat: Wein aus Argentinien bietet nichts, was den weiten Weg nach Europa lohne.

Eine gewagte Behauptung, die aus der Feder eines Weinfachmanns erklärungsbedürftig ist. Meint Raffelt, dass ein Malbec aus Mendoza keine Spezialität sei? Dass ein Pinot Noir aus dem 1200 Meter hohen Tupungato kein unverwechselbarer Wein ist? Dass ein Merlot aus dem kühlen Patagonien nicht authentisch sei? Wer je ein Glas dieser Weine getrunken hat, weiß eigentlich, dass sie genauso viel „Alleinstellungsmerkmale“ besitzen wie Riesling von der Mittelmosel. Wein, auch argentinischer, ist kein Apfel, bei dem egal ist, ob er seine roten Bäckchen in Chile oder in Württemberg bekommen hat.

Wer entscheidet, was vernünftig ist?

Vor allem: Wer entscheidet, welche Produkte nach Deutschland zu importieren sich trotz des langen Transportwegs und der damit verbundenen Luftverschmutzung lohnt? Irgendeine Regierung? Der Weltklimarat? Ein Arbeitskreis des Evangelischen Kirchentags? Raffelt sagt, er stelle sich die Frage nur für sich selbst. Bei manchem Vertreter der Generation Bio bin ich mir allerdings nicht sicher, ob er sich nicht heimlich eine Instanz wünscht, die im Namen einer höheren Moral für alle entscheidet. „Sanfter Öko-Terror“ hat die FAZ neulich geschrieben.

Ich weiß, dass viele Menschen – gerade die sensiblen, gebildeten unter uns – ähnlich denken wie Raffelt: Warum in die Ferne schweifen, wenn wir in Deutschland gute eigene Weine haben? Oder in Frankreich? In Italien? Und ich wäre einverstanden, wenn jeder selbst entscheidet, ob er aus moralischen Gründen auf Übersee-Weine verzichtet. Nur wäre es schön, wenn er seine Entscheidung in voller Kenntnis der Lage samt aller Implikationen träfe, die mit dieser Entscheidung verbunden sind. Moral ist nicht teilbar. Man kann nicht dreiviertel aller in Deutschland gefertigten Autos zum Export über die Weltmeere schicken und gleichzeitig glauben, durch Verzicht auf den Konsum von Überseeweinen die Welt ein bisschen besser zu machen.

Links:

Christoph Raffelt auf originalverkorkt.de: „Umweltbilanz einer Flasche“
Antwort von Christoph Raffelt auf Gefährliche Bio-Logik: „Lieber Jens Priewe…“

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